Lange Listen mit teils obskuren Nebenwirkungen: Beipackzettel irritieren Mediziner und verunsichern Patienten. Verbesserungsvorschläge für Patienteninformationen gibt es viele, doch bremst die Bürokratie alle Reformbestrebungen.
Hat sich das Blutbild eines Patienten verändert, wagt so mancher Kollege zuerst einen Blick in Richtung Fachinformation oder Packungsbeilage, falls Arzneimittel im Spiel sind. So auch Dr. Jon Duke, Mediziner an der Indiana University, Indianapolis, USA. Angesichts der Liste möglicher Nebenwirkungen eines einzigen Medikaments verschlug es ihm die Sprache. Und er tat, was alle Forscher in dieser Situation tun würden: Er machte daraus eine wissenschaftliche Arbeit.
Seine Ergebnisse aus 5.602 Patienteninformationen: Durchschnittlich 70 Nebenwirkungen wurden auf den bedruckten Beilegern gelistet, als Maximum fand er sage und schreibe 525 unerwünschte Effekte. Bei den Top 200-Arzneistoffen waren es 106 im Vergleich zu 68 bei selteneren Arzneimitteln. Oft verschrieben heißt eben auch gut beobachtet – viele Kollegen aus Praxis und Apotheke melden fleißig tatsächliche und mögliche Nebenwirkungen. Die Sammlung wächst und wächst. Zudem erschienen viele Arzneistoffe, deren Zulassung schon Jahre und Jahrzehnte zurück lag, im Vergleich zu modernen Pharmaka als erstaunlich nebenwirkungsarm. Doch der Grund ist simpel. Heutige Zulassungsstudien unterscheiden sich grundlegend vom alten Procedere und liefern einfach weitaus mehr Daten.
Aus der Apotheke auf den Müll
Ein Blick auf die Nebenwirkungen: Manche Symptome wie Störungen des Verdauungssystems, respektive Übelkeit und Erbrechen, fand die Arbeitsgruppe um Jon Duke bei 75 Prozent aller Präparate – entsprechende Textbausteine gehören quasi schon zum guten Ton einer jeden Patienteninformation. Andere Effekte konnten nur in Einzelfällen beobachtet werden, und im Nachhinein war die Quelle teilweise nicht mehr eruierbar. Vielmehr vermuten die US-amerikanischen Kollegen, dass sich Firmen mit den langen Listen gegen alles Mögliche und Unmögliche absichern wollen, um Regressansprüche zu vermeiden. Schließlich habe man die Patienten ja gewarnt.
Mehrere Untersuchungen konnten beweisen, dass sieben von zehn Patienten den Beipackzettel durchaus ernst nehmen und gründlich studieren, was ja eigentlich wünschenswert wäre. Etwa 15 Prozent sind daraufhin so verunsichert, dass sie ihr Präparat nicht mehr schlucken, so das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Auch die Rabattverträge leisten hier ihren Beitrag. Zwar werden nur wirkstoffgleiche Medikamente ausgetauscht, das heißt aber noch lange nicht, dass Beipackzettel des Rabattarzneimittels die gleichen Indikationen wie das Originalpräparat auflisten. Patient verunsichert, Therapie gescheitert. So einfach ist die Formel. Ein klassischer Fall von Non-Compliance, verbunden mit der je nach Krankheitsbild deutlich erhöhten Morbidität und Mortalität. Gesundheitsökonomen des Gesundheitsministeriums schätzen, dass pro Jahr allein in Deutschland 4.000 Tonnen Arzneimittel im Müll landen, zum Teil noch originalverpackt. Der volkswirtschaftliche Schaden läge bei etwa vier bis fünf Milliarden Euro, für die Vereinigten Staaten werden 180 Milliarden US-Dollar geschätzt.
Reform gescheitert – Patient ohne Therapie?
Damit war es für die US-Arzneimittelbehörde Food and Drug Administration, kurz FDA, an der Zeit, durchzugreifen. Ohne solide Datengrundlage kein Hinweis an Endverbraucher oder Ärzte, so die neue Maxime. Denn die Gefahr der übertriebenen Listen sei, dass berechtigte Warnungen von Kollegen nicht mehr ernst genommen würden und im Wust der Informationen untergingen. Laut einer Umfrage bewerten auch 91 Prozent der Ärzte ellenlange Litaneien von Nebenwirkungen als problematisch. Zwei US-Studien zeigten beispielsweise, dass bei neu veröffentlichten unerwünschten Effekten die Verschreibungsrate von Antidepressiva rapide sank. Leidtragende waren die Patienten, denen teilweise keine alternative Pharmakotherapie angeboten wurde.
Vor diesem Hintergrund begann 2006 in den Vereinigten Staaten die umfassendste Reform seit 25 Jahren. Patienteninformationen sollten besser strukturiert und auf das Wesentliche reduziert werden, weniger ist oftmals eben doch mehr. Jetzt das ernüchternde Ergebnis: Laut Duke lag die Zahl der veröffentlichten Nebenwirkungen der Zulassungsperiode von 1990 bis 1999 bei 115 und sank im Zeitraum von 2000 bis 2009 lediglich auf 83, Tendenz jetzt wieder steigend. Damit hat die FDA trotz neuer Vorgaben dem Phänomen der „Überwarnung“ nicht Einhalt gebieten können.
Damit nicht genug: In Deutschland kam eine Untersuchung des Dienstleisters Diapharm zu einem vernichtenden Urteil hinsichtlich Sprache und Inhalt der Patienteninformationen. Von den 100 am häufigsten verordneten Arzneimitteln hatten nicht einmal 50 einen halbwegs patientengerechten Beipackzettel. Und nur vier von 100 Beilegern bekamen das Prädikat „sehr gut verständlich“. Das deckt sich mit einer Patientenbefragung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK. Danach hielten 42 Prozent der Verbraucher die Informationsblättchen für zu lang und zu unübersichtlich, 20 Prozent hatten Probleme, den Inhalt zu verstehen und 17 Prozent konnten die Schrift nur mühsam entziffern. Ein Höhepunkt der Kommunikation: Der Beipackzettel eines häufig verordneten Antibiotikums bestand aus knapp 32.000 Zeichen in der sagenhaften Schriftgröße von sechs Punkt. Besonders ältere Patienten haben hier keine Chance – als Standard für Fließtext in Büchern und Zeitschriften gilt, je nach Schriftart, mindestens neun bis zehn Punkt.
Alles Clarum?
Deshalb haben Mediziner zusammen mit Designern und Textern für das Fantasiepräparat „Clarum“ einen optimalen Beipackzettel konzipiert – auch heute noch Goldstandard. Moralische Unterstützung erhielten sie auch vom BfArM, das mittlerweile entsprechende Empfehlungen propagiert:
Dass allein schon ein grafisch optimierter Beipackzettel die Therapietreue fördern kann, bewiesen Studien mit Citalopram. Antidepressiva gelten ohnehin als kritisch hinsichtlich der Therapietreue – zeigen sich die erwünschten Effekte doch meist erst nach einiger Zeit, Nebenwirkungen aber relativ bald. Hier entwickelte der Arzneimittelhersteller statt der klassischen Patienteninformation ein kleines, gut lesbares Büchlein im Format 100 x 140 Millimeter, das mit einem gut strukturierten Inhaltsverzeichnis und einem Feld für die Einnahmeempfehlung versehen war. Im Rahmen einer Lesbarkeitsstudie wurden dann Patienten, Ärzte und Apotheker befragt. Sie attestierten der neuen Form einen deutlich besseren Nutzen als dem alt hergebrachten Papierstück. Und: Auch das Booklet passte wunderbar in die alte Pillenpackung.
Die Paragraphenreiter
Auch die EU hat mittlerweile auf die zahlreichen Verbesserungsvorschläge von allen Seiten reagiert. Mit der „Readability Guidline“ sollte sich alles verbessern, Lesbarkeitstests wurden bei der Zulassung neuer Präparate zur Pflicht. Dennoch hat der Beipackzettel eine juristische Grundlage ohne allzu großen Spielraum. Die EU-Richtlinie 2001/83/EG erarbeiteten europäische Bürokraten, um einen „Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel“ zu schaffen. Bei uns wurde das Regelwerk mit dem Arzneimittelgesetz (§ 11, Packungsbeilage) in nationales Recht umgesetzt. Danach muss eine Patienteninformation unter anderem Hinweise auf den Wirkstoff, seine Darreichungsform, Anwendungsgebiete, die Dosierung, mögliche Nebenwirkungen inklusive der Auswirkung auf das Bedienen von Maschinen und der Teilnahme am Straßenverkehr und Wechselwirkungen mit anderen Arzneistoffen haben. Verpflichtend sind auch Hinweise auf die Genehmigung und auf das letzte Aktualisierungsdatum. An Patienten hat der Gesetzgeber bei diesen inhaltlichen Vorgaben wohl kaum gedacht. Da erstaunt es nicht, dass auch in Zukunft noch so manche Packung im Müll landen wird.