Auf Instagram finden sich unter dem Hashtag #bodypositivity Millionen Beiträge – voller Selbstliebe, Statements gegen Schönheitsideale und Bilder, die Diversität feiern.1 Für viele Menschen bedeutet das eine Befreiung vom gesellschaftlichen Druck, einem bestimmten Körperbild entsprechen zu müssen. Was für die einen als befreiender Schritt zur Selbstakzeptanz erlebt wird, kann bei anderen innere Konflikte oder Zweifel auslösen: Wie lässt sich ein positives Körperbild entwickeln, ohne dabei die Wahrnehmung realer gesundheitlicher Risiken aus dem Blick zu verlieren?
Die Antwort liegt vielleicht in einem Perspektivwechsel: Body Neutrality – ein Konzept bei dem nicht das Aussehen, sondern die gesunde Funktion des Körpers im Mittelpunkt steht.2
Die Ursprünge der Body-Positivity-Bewegung liegen in der „Fat Acceptance“-Bewegung der 1960er Jahre. Ihr Ziel: Diskriminierung abbauen und Sichtbarkeit für alle Körper schaffen. Heute ist Body Positivity nicht nur in sozialen Medien, sondern auch in Werbung, Mode und Popkultur allgegenwärtig.3 Die Idee: Jeder Körper ist ein guter Körper. Egal, ob mit Dehnungsstreifen, Narben, Übergewicht oder Behinderung – alle Menschen verdienen Respekt, Anerkennung und Selbstliebe.
Doch wie bei vielen Bewegungen gibt es auch hier Schattenseiten. Der Begriff „Toxic Body Positivity“ beschreibt ein Phänomen, bei dem einzelne Aspekte der Body Positivity extreme Ausmaße annehmen, die sogar schädlich für die Gesundheit sein können: Manche Menschen fühlen sich gezwungen, ihren Körper ständig positiv darzustellen und trauen sich nicht mehr, ehrlich über Zweifel, Ängste oder gesundheitliche Probleme zu sprechen. Wer sich nicht schön fühlt, fühlt sich falsch. Dies kann dazu führen, dass gesundheitsschädliche Zustände wie Übergewicht verharmlost werden.3
Problematisch wird es, wenn Body Positivity den Eindruck vermittelt, jede Form der Körperveränderung, insbesondere Gewichtsreduktion, sei ein Verrat an der Selbstakzeptanz. Innerhalb der Body Positivity-Bewegung gibt es Stimmen, die sich grundsätzlich gegen Gewichtsabnahme aussprechen, mit der Argumentation, dass es auch bei sehr hohem Körpergewicht möglich sei, gesund zu leben.3 Dabei gilt medizinisch: Adipositas ist eine chronische Erkrankung – mit erhöhtem Risiko für Diabetes mellitus Typ 2 , Herz-Kreislauf-Erkrankungen, orthopädische Probleme und psychische Belastungen.4 Laut Statistischem Bundesamt waren 2021 bereits über 62 % der Männer und knapp 43 % der Frauen in Deutschland übergewichtig.5
Es stellt sich damit die Frage: Wie lassen sich Selbstakzeptanz und gesundheitliche Verantwortung vereinbaren – ohne Schuldzuweisungen, aber auch ohne Verharmlosung?
Die Antwort: Body Neutrality.
Fachgesellschaften wie die Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) und die Deutsche Gesellschaft für Essstörungen (DGESS) sprechen sich zunehmend für einen neutraleren Umgang mit dem Körper aus: Body Neutrality statt Body Positivity. Zwar habe die Body-Positivity-Bewegung eine größere Vielfalt von Körpertypen in die öffentliche Wahrnehmung gebracht, dennoch bleibt eine starke Betonung des Aussehens bestehen.2
Body Neutrality verzichtet auf das Ideal der permanenten Selbstliebe. Stattdessen setzt das Konzept auf Funktionalität, Achtsamkeit und Wertschätzung, unabhängig vom Aussehen.
Das Konzept der Body Neutrality kann im medizinischen oder beratenden Alltag eine hilfreiche Perspektive eröffnen. Besonders dort, wo es um sensible Themen wie Körperbild, Gewicht oder Essverhalten geht. Es ermöglicht einen Zugang, der weniger wertend und dafür stärker ressourcenorientiert ist.
Im Umgang mit Betroffenen können folgende Überlegungen Orientierung geben:
Die Body-Positivity-Bewegung hat wichtige Impulse für mehr Sichtbarkeit, Vielfalt und ein selbstbestimmteres Verhältnis zum eigenen Körper gesetzt. Doch bei gesundheitlichen Risiken, chronischen Erkrankungen oder seelischen Belastungen reicht ein positiver Hashtag allein nicht aus.
Vor allem im medizinischen und therapeutischen Kontext braucht es einen achtsamen Umgang mit Körperbildern, jenseits von Idealisierung, aber auch jenseits von Bewertung. Denn Stigmatisierung hilft selten weiter: Sie erhöht psychischen Druck und kann zu einer Verschlechterung des Lebensstils führen.6
Body Neutrality eröffnet hier einen praktikablen Mittelweg. Sie lädt dazu ein, den eigenen Körper nicht ständig bewerten oder idealisieren zu müssen, sondern ihn als Teil der eigenen Lebensrealität anzunehmen und wertzuschätzen mit all seinen Funktionen und Fähigkeiten. Für Behandelnde entsteht dadurch die Chance, mit Patientinnen und Patienten auf Augenhöhe über Gesundheit zu sprechen: empathisch, entlastend und lösungsorientiert, mit einem Fokus auf die gesunde Körperfunktion statt äußerer Merkmale.
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