Viele Menschen mit Übergewicht stehen im ständigen Schatten ihres Körpergewichts, das alle anderen Facetten ihrer Persönlichkeit und Gesundheit überlagert. Erfahrungen wie von Linda*, einer Frau, die ihr Leben lang mit Übergewicht zu kämpfen hatte, spiegeln ein gesellschaftliches Muster wider: Menschen mit Übergewicht sind oft schon im frühen Kindesalter Vorurteilen und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt. In diesem Beitrag werfen wir einen Blick auf die Datenlage zu diesem weit verbreiteten Problem und zeigen, wie es sich im Leben von Betroffenen auswirkt.
Gewichtsbezogene Stigmatisierung findet in vielen Lebensbereichen statt – in persönlichen Beziehungen, am Arbeitsplatz, in den Medien und im Gesundheitswesen.1-4 Studien zeigen, dass 19,2 % der Menschen mit Adipositas Grad I und sogar 41,8 % der Menschen mit Adipositas Grad II oder III solche Erfahrungen gemacht haben, im Vergleich zu nur 5,7 % der Normalgewichtigen.5
Gewichtsbezogene Stigmatisierung basiert oft auf einem vereinfachten Verständnis von Adipositas, bei dem den Betroffenen die alleinige Verantwortung für ihr Gewicht zugeschrieben wird. Andere Faktoren, die zur Entstehung von Adipositas beitragen, werden dabei weniger berücksichtigt.6 So glauben laut einer repräsentativen Befragung des Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrums (IFB) Adipositas Erkrankungen in Leipzig mehr als 2/3 der über 3.000 Befragten, dass Übergewicht vor allem selbst verschuldet sei – durch „Faulheit“ oder „zu viel Essen“.7 Nur 28 % nennen genetische oder medizinische Ursachen.7 Dabei zeigen Zwillingsstudien, dass Adipositas zu etwa 40 bis 70 % auf erbliche Faktoren zurückzuführen ist.7
Gewichtsbezogene Stigmatisierung kommt nicht nur im Alltag, sondern auch im Gesundheitswesen vor. Angehörige verschiedener Gesundheitsberufe zeigen oft stigmatisierende Einstellungen gegenüber Menschen mit Übergewicht oder Adipositas. Diese Vorurteile beeinflussen nicht nur die Wahrnehmung und Einschätzung der Betroffenen, sondern auch die Kommunikation und klinische Entscheidungsfindung, was letztlich die Behandlung negativ beeinträchtigen kann. Patientinnen und Patienten berichten, dass sie sich aufgrund stereotyper Annahmen über Gewichtszunahme oder die unzureichende Auseinandersetzung mit ihren Gesundheitsproblemen stigmatisiert fühlen. Auch die Diagnose Adipositas wird häufig negativ konnotiert.6
Zudem wurde in Übersichtsarbeiten festgestellt, dass Ärztinnen und Ärzte in der primärmedizinischen Versorgung oftmals unzureichend in der Adipositasbehandlung geschult waren. Dies führte zu kürzerer Behandlungszeit, geringerer Intervention und mangelndem Engagement in der Behandlung. Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner sahen sich oft nicht als zuständig für die Adipositasbehandlung und äußerten Vorbehalte gegenüber den verfügbaren Behandlungsoptionen. Betroffene berichteten von unpassender medizinischer Ausstattung und dem Fehlen einer angemessenen Behandlung, wobei diagnostische Maßnahmen und Therapien wie Pharmakotherapie oder chirurgische Eingriffe in einigen Fällen, trotz Indikation, vorenthalten wurden.6 Durch die zunehmende Sensibilisierung für die Stigmatisierung von Adipositas und die gestiegene Bekanntheit von Behandlungsoptionen, könnte sich die Lage jedoch verändert haben.
Die Vorstellung, Stigmatisierung könne zum Abnehmen motivieren, gilt heute als widerlegt.7 Im Gegenteil: Diskriminierung führt eher zu einer Verschlechterung des Essverhaltens, mehr sozialem Rückzug und einer Zunahme psychischer Erkrankungen – darunter Depressionen, Essstörungen und Angststörungen.
Laut einer internationalen Studie mit knapp 14.000 Teilnehmenden aus sechs Ländern, darunter Deutschland, war verinnerlichte Gewichtsdiskriminierung signifikant mit einer Gewichtszunahme, schlechterer Lebensqualität und weniger gesundheitsförderlichem Verhalten assoziiert.8,9
Trotzdem ist Gewicht bislang nicht als Diskriminierungsmerkmal im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verankert – obwohl Initiativen wie die „Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung“ (GgG) dies seit Jahren fordern.8 Immerhin setzt die aktuelle S3-Leitlinie zur „Prävention und Therapie der Adipositas“ ein wichtiges Zeichen: Mit einem eigenen Kapitel zum Thema Stigmatisierung enthält sie nun erstmals konkrete Handlungsempfehlungen für Fachpersonal, um Diskriminierung im medizinischen Kontext aktiv zu begegnen.6
Menschen mit Übergewicht stehen unter einer doppelten Belastung: Sie kämpfen nicht nur mit körperlichen Beschwerden, sondern oft auch mit der sozialen Abwertung und Schuldzuweisung, die ihnen täglich begegnet. Umso wichtiger ist es, die Ursachen von Übergewicht differenziert zu betrachten – und Menschen unabhängig von ihrem Körpergewicht respektvoll zu behandeln.
Gesundheitsförderung beginnt nicht beim Zeigefinger, sondern bei Zugewandtheit, Verständnis und einer diskriminierungsfreien medizinischen Versorgung.
Fußnoten:
*Es handelt sich um eine fiktive Person, die stellvertretend für Erfahrungen realer Patientinnen und Patienten steht.
Referenzen: