Mit Medikamenten lässt sich Multiple Sklerose gut in den Griff bekommen. Apps und Online-Angebote leisten ebenfalls wichtige Beiträge – das versprechen zumindest Entwickler. Zurecht?
Die Zahl an Apps und Online-Anwendungen für MS-Patienten wächst. Manche Tools helfen dabei, Beschwerden zu erfassen oder Medikamente richtig einzunehmen. Andere unterstützen Patienten beim Krankheitsmanagement, vermitteln Wissen oder motivieren zu mehr Bewegung. Eine kleine Auswahl deutschsprachiger Tools – teils von Firmen, teils von pharmazeutischen Herstellern, teils von Verbänden:
Um Tools besser einzuordnen und zu prüfen, welche wirklich helfen, sprach DocCheck mit Prof. Heinz Wiendl. Er ist Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Münster.
„Hier handelt es sich um einen weiten Bereich“, sagt Wiendl. Er nennt drei wesentliche Kategorien: „Manche Anwendungen helfen uns, im besten Fall MS als Ganzes besser zu verstehen.“ Sie erfassen mehr, als in der medizinischen Routine derzeit möglich ist. Apps tracken Bewegungen, erfassen die Koordinationsfähigkeit oder bieten detaillierte Ganganalysen an. „Solche Tools sind nicht in der Form validiert, so dass derzeit der echte Mehrwert nicht zu erkennen ist“, sagt Wiendl. „Außerdem bringt das Monitoring auf Stunden- oder Tagesbasis bei einer Erkrankung mit langfristigem Verlauf recht wenig.“ Eine Tagesfluktuation sei etwa bei Diabetes relevant, jedoch nicht bei MS.
„Andere Apps begleiten spezielle Pharmakotherapien, um den Erfolg bzw. die Sicherheit, oder auch schlicht die Compliance zu verbessern“, berichtet der Experte. Bekanntlich sei die Behandlung mit Arzneimitteln für Laien recht kompliziert, es gebe mehr als 18 unterschiedliche Therapieregimes. „Unterstützung in dem Bereich ist extrem praxisrelevant; sie hilft Patienten, besser durch die MS-Welt zu navigieren“, so der Experte. Besonders wichtig sei dies als Beitrag zum Sicherheitsmonitoring. Solche Tools würden aber auch Ärzte im Sinne von „Work Smarter, Not Harder“ unterstützen: als Beitrag zu mehr Effizienz. Viele dieser Apps seien jedoch produktbezogen, sprich von einzelnen Herstellern entwickelt worden.
Zur dritten Kategorie mit den meisten Beispielen – bei recht unklarem Nutzen – gehören, laut Wiendl, Apps aus dem Lifestyle-Bereich oder Apps, die letztlich mehr oder weniger nur daran erinnern, Medikamente zu einem bestimmten Zeitpunkt einzunehmen. Wiendl: „Sie sind aus meiner Sicht nicht komplett sinnlos, aber man fragt sich natürlich, was der Mehrwert speziell bei MS ist.“ Er resümiert: „Die für mich relevanteste Frage ist, ob Tools wirklich den derzeitigen Standard of Care verbessern.“
Experten rechnen aber mit einer zunehmenden Evaluierung des Nutzens. Schließlich können Ärzte Apps, die eine Bewertung beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erfolgreich durchlaufen haben, zu Lasten gesetzlicher Krankenkassen verordnen. Solche Tools werden dauerhaft ins DiGA-Verzeichnis, eine Liste digitaler Gesundheitsanwendungen, aufgenommen, falls Hersteller den Nutzen anhand von Studien nachweisen.
Im MS-Bereich betrifft das momentan nur Elevida bei MS-bedingter Fatigue (Stand: 8. November 2022). Die Wirksamkeit von Elevida wurde im Rahmen einer klinischen Studie untersucht. Dazu haben Forscher Patienten mit MS und Fatigue online rekrutiert. Sie wurden 1:1 einer Therapiegruppe (n = 139) oder einer Wartegruppe (n = 136) zugeteilt.
In der Interventionsgruppe zeigte sich als primärer Endpunkt nach 12 Wochen ein signifikant niedrigerer Chalder-Fatigue-Scale-Score als in der Kontrollgruppe. Die Unterschiede waren auch nach 24 Wochen nachweisbar. Verschiedene sekundäre Endpunkte wurden ebenfalls erreicht. Durch die Intervention haben sich die motorische und kognitive Fatigue, die Angst, das Denken, die Beweglichkeit der unteren Extremitäten sowie die Bewältigung der Aktivitäten des täglichen Lebens verbessert.
Doch wie sind Apps ohne Listung im DiGA-Verzeichnis einzustufen? Vor wenigen Monaten hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) Ergebnisse einer Bewertung von Mobile-Health-Anwendungen für das MS-Selbstmanagement veröffentlicht. Im Mittelpunkt standen Anwendungen mit Erinnerungsfunktion sowie Tools zur Verbesserung körperlicher Beschwerden bzw. zur Linderung depressiver Symptome. Die Autoren der Analyse stufen den Bias der verfügbaren Studien als „hoch“ ein – nur wenige Studien seien wirklich aussagekräftig. Alles in allem sei die Datenlage noch zu schlecht für belastbare Aussagen.
Einen möglichen Nutzen sehen die Forscher in Apps zur Verbesserung der Compliance von Pharmakotherapien anhand von Erinnerungsfunktionen. Auch verhaltenstherapeutisch orientierte Online-Programme könnten dazu beitragen, depressive Beschwerden oder Angst zu verringern. Dass das Prinzip unabhängig von MS funktioniert, zeigen u. a. Deprexis, HelloBetter Panik oder Selfapy. Sie wurden nach Bewertung durch das BfArM dauerhaft in das DiGA-Verzeichnis aufgenommen.
Bildquelle: Julian Santa Ana, unsplash