Die orale Vollantikoagulation bei COVID-19 erlebt die nächste Schlappe. Die ACTION-Studie sät erneut Zweifel an einem pauschalen Einsatz – auch bei niedrigen D-Dimeren.
Dass es komplexe stationäre internistische Behandlungsmethoden in die Laienpresse schaffen, geschieht eher selten, aber im Frühjahr und Sommer 2020 war das der Fall. COVID-19 schwappte über den Globus und richtete in vielen Ländern Verwüstungen an. Pathologen und andere Experten versuchten, zu verstehen, was genau passiert bei dieser Erkrankung. Sie fanden Blutgerinnsel in zahlreichen Organen. Und plötzlich war COVID-19 nicht mehr primär eine „simple“ Lungenentzündung, sondern eine systemische Gefäßerkrankung mit überschießender Gerinnung.
Dass die Gerinnungsstörung eine wichtige Komponente von COVID-19 ist, ist unstrittig. Gezeigt wurde das ebenfalls schon früh in der Pandemie unter anderem durch Daten, die aus Frankreich kamen, wonach thromboembolische Komplikationen bei COVID-19 ARDS in etwa 18 % der Patienten auftreten, weit überwiegend Lungenembolien, gegenüber 6 % bei ARDS anderer Ursache. Die Frage ist, was tun mit diesem Wissen. Seit Frühjahr 2020 wurde vielfach dafür plädiert, gerinnungshemmende Medikamente einzusetzen, und als eine (nicht randomisierte) große New Yorker Kohorte scheinbar starke Hinweise auf einen Nutzen der Vollantikoagulation bei COVID-19 fand, schwenkten viele Krankenhäuser, auch in Deutschland, darauf ein.
Nun ist die Pathophysiologie das eine, die praktischen Konsequenzen daraus sind das andere. Jeder Arzt und jede Ärztin weiß, dass die Vollantikoagulation ein zweischneidiges Schwert ist. Verschiedene Fallserien deuteten im COVID-Herbst 2020 darauf hin, dass die bei COVID-19 unstrittig häufigen Lungenembolien durch die Vollantikoagulation abnahmen. So ganz klar war der Zusammenhang aber auch wieder nicht, weil sich gleichzeitig die Dexamethason-Therapie flächendeckend durchsetzte. Klarer Fall für randomisierte Studien also, und die starteten dann ab Spätsommer 2020 auch.
Und diese Studien enttäuschten. Die drei Geschwisterstudien ATTACC, ACTIV-4a und REMAP-CAP wurden im Dezember 2020 wegen Sicherheitsbedenken nach einer Interimsanalyse gestoppt. Ende Januar lagen dann erste, vorläufige Daten von 2290 randomisierten Patienten vor. Mittlerweile ist die Publikation als Preprint veröffentlicht, und sie zeigt, dass die pauschale Antikoagulation bei Intensivpatienten mit COVID-19 nicht nur keinen Nutzen brachte, sondern den Patienten sogar schadete: Es kam zu einem Drittel mehr Blutungen, und es gab statistisch keinen Unterschied bei der Sterblichkeit. Bei den „Tagen ohne Organersatz“ gab es, wenn irgendwas, dann einen Trend zu Ungunsten der Antikoagulation.
Besonders ungünstig schnitten Patienten ab, die bei Therapiebeginn bereits einen Organersatz benötigten. Bei moderatem COVID sahen die Daten besser aus, was zu der Hypothese führte, dass frühstationäre Patienten, und hier insbesondere jene mit erst leicht erhöhtem D-Dimer-Wert unterhalb der zweifachen oberen Normgrenze, wahrscheinlich profitieren. In die Leitlinien fand das so allerdings keinen Eingang: Die deutsche S3-Leitlinie zur stationären Therapie bei COVID-19 empfiehlt routinemäßig eine Thromboembolie-Prophylaxe, die volle Antikoagulation aber nur „im Einzelfall“ bzw. bei Vorliegen einer etablierten Indikation dafür.
Das ist der Hintergrund, auf den die jetzt im Lancet publizierte ACTION-Studie trifft. Sie hat in offenem, multizentrischem, randomisiertem, pragmatischem Studiendesign 615 COVID-19-Patienten in Brasilien eingeschlossen, die entweder therapeutisch antikoaguliert wurden oder nur eine Thromboembolie-Prophylaxe erhielten. Dabei handelte es sich um ein breites Spektrum stationärer Patienten, die zu 94% klinisch stabil waren.
Alle diese Patienten hatten erhöhte D-Dimere, 27 % der Patienten waren oberhalb der dreifachen oberen Normgrenze. Dafür hatten acht von zehn Patienten bereits systemische Kortikosteroide an Bord, kurz: Es war kein frühstationäres Kollektiv, eher ein Kollektiv, das dem der REMAP-CAP/ATTACC/ACTIV-4a Studien ähnelte. Auch dort nahmen 80 % der Patienten zu Studienbeginn systemische Glukokortikoide, und rund die Hälfte hatte D-Dimere oberhalb der zweifachen Normgrenze.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die ACTION-Ergebnisse den Ergebnissen von REMAP-CAP/ATTACC/ACTIV-4a ähneln. Beim primären Effektivitätsendpunkt, in den Tod, Hospitalisierungsdauer und Sauerstoffbedarf bis Tag 30 eingingen, gab es keinen statistisch signifikanten Unterschied zwischen Vollantikoagulation und Thromboembolie-Prophylaxe. Beim primären Sicherheitsendpunkt – schwere oder klinisch relevante, nicht schwere Blutungen – gab es diesen Unterschied: 8 % in der antikoagulierten Gruppe gegenüber nur 2% in der Vergleichsgruppe hatten ein solches Sicherheitsereignis. Ein deutlicher Unterschied, und statistisch hoch signifikant.
Tatsächlich ist die ACTION-Studie mehr als eine reine Bestätigung der anderen Studien. Sie stellt auch die noch immer beliebte These, dass eine etwas frühere Antikoagulation segensreich sein könnte, stark in Frage. Denn in der Subgruppenanalyse gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass früher antikoagulierte Patienten besser abschneiden. Weder hat die Antikoagulation in der Subgruppe deren mit gering erhöhten D-Dimeren Vorteile noch schneiden jene 20% der Patienten besser ab, die keine systemischen Glukokortikoide nahmen. Auch Patienten mit kurzer Symptomdauer hatten nichts von der Antikoagulation. Allenfalls jene, die bei Randomisierung ohne Sauerstoff waren, hatten im Trend einen Vorteil, aber das – bei kleiner Studiengröße – weit von statistischer Signifikanz entfernt.
Heißt das, dass die orale Antikoagulation bei COVID-19 out ist? Zumindest gibt es keinen Grund, an den derzeitigen, diesbezüglich sehr restriktiven Leitlinien etwas zu ändern. Eine andere Frage ist, ob nicht andere Arten der Gerinnungshemmung segensreich sein könnten. Unter der Hypothese, dass das Hauptproblem Lungenembolien oder überhaupt Embolien sind, könnte eine Lysetherapie bei ausgewählten Patienten Sinn. Studien zum Einsatz von rtPA bei COVID-19-Patienten laufen.
Bildquelle: Sebastien LE DEROUT, unsplash