„Von der Schulmedizin ignoriert“ ist wohl eines der „Siegel“, das eine unglaubliche Anziehungskraft hat. Immer wieder begegnen mir Patienten, die eine dieser nur den Orthomolekularmedizinern zugänglichen „Stoffwechselstörungen“ haben sollen.
Besonders dramatisch ist es aber gegenwärtig für mich bei einer Patientin mit einer nicht näher bezeichneten Essstörung (EDNOS), die ursprünglich mit der Diagnose Anorexia nervosa in unsere Klinik kam. Wobei sie selber nur indirekt betroffen ist. Sie weigert sich nämlich aus Sicht ihrer Familie, sich „richtig“ diagnostizieren zu lassen. Aber dazu später.
Nun wirkte das Mädchen eigentlich gar nicht typisch anorektisch. Wenn es denn sowas wie „typisch“ in diesem Zusammenhang überhaupt gibt. Mit „untypisch“ meine ich, dass sie angab, nichts mehr essen zu können, weil sie das nicht dürfte. Sie wolle aber durchaus. Sie könne aber nicht.
Eine eingebildete Stoffwechselstörung?
Sie müsse soviel Rücksicht auf eine unheimliche Stoffwechselstörung nehmen, unter der ihr 22-jähriger Bruder und wohl auch die Mutter leide. Es sei einfach kein Raum mehr für normales Essen, denn die Familie müsse die meisten Lebensmittel wegen Unverträglichkeiten weglassen.
Offenbar schüchterte uns diese traurige Mitteilung irgendwie ein, als wir die Patientin aufnahmen, sodass gar nicht weiter nachgefragt wurde, welches Schicksal denn diese Familie getroffen haben könnte. Immerhin hat ihr Bruder deshalb (?) seine Ausbildung zum zweiten Mal abgebrochen und vegetiere seither zu Haus vor sich hin. Ledliglich Fernsehen und Computerspielen würde noch möglich sein. Die Mutter kümmere sich nun schwerpunktmäßig um ihn. Sie sei jetzt aber auch schon so schwach, dass die Tochter in die Rolle der Versorgerin einsteigen müsse.
Rücksicht auf ein Phantom
Meiner Patientin vermittelte man nun, sie solle ein wenig Rücksicht auf die Erkrankung der Familienangehörigen nehmen, nicht so eigensinnig nur ihre eigenen Interessen oder die weitere Schulausbildung in der 11. Klasse des Gymnasiums in den Vordergrund stellen.
Und so wurde die Patientin körperlich immer „weniger“ und kam dann über eine Kinderklinik zur stationären Behandlung zu uns – was laut Mutter total überflüssig sei. Schließlich belege die Gewichtsabnahme, dass die Stoffwechselstörung bestehe und der Körper die falschen Nährstoffe nicht verarbeiten bzw. entgiften könne.
Die Tochter „weigere“ sich, sich hinsichtlich dieser Stoffwechselstörung diagnostizieren und behandeln zu lassen und beharre darauf, an einer Depression und Essstörung zu leiden. Das kann ihre Familie nun überhaupt nicht nachvollziehen. Der Tochter fehle es doch nicht an Liebe oder Essen und schließlich sei in der Familie doch eine unheimliche Stoffwechselstörung bekannt, die doch hinreichend alle Probleme erklären könnte.
Die Mutter konnte wegen ihrer eigenen Schwäche und der Versorgung des 22-jährigen Bruders die Tochter nicht zur Aufnahme begleiten, weshalb wir von dieser „Vorgeschichte“ zunächst gar nichts wussten.
Geheimnisvoller Stoffwechselfluch
In einer der letzten Visiten traute ich mich endlich, einmal genauer nachzufragen, welche unheimliche Stoffwechselstörung denn da die Familie im Griff habe. Die Patientin selber konnte dazu zunächst gar nichts sagen. Dann fielen ihr drei Buchstaben ein, mit denen Sie aber auch keinen Inhalt verbinden konnte, sie wusste nur, dass es wohl eine Stoffwechselstörung ist.
Was für ein Wort, oder? Auch Kryptopyrrolurie (KPU) genannt, der Begriff ist eigentlich noch schöner, wenn man an Verschwörungstheorien jenseits der Schulmedizin glauben will. Die HPU/KPU-Problematik ist angeblich DIE Ursache für eine Reihe von chronischen Erkrankungen. Oder eben eine Pseudokrankheit. Je nachdem, wie sehr man an Verschwörungstheorien glaubt.
Es gibt sogar einen „Erfinder“ dieser Krankheit, der auch gleich ein eigenes Geschäftsmodell zu seiner Krankheit verbreitet. Ich möchte ihn hier aber nicht weiter „huldigen“.
Die Alles-Erklärung
Die Symptome der mysteriösen Stoffwechselerkrankungen reichen von A-Z und umfassen so ziemlich jede Befindlichkeitsstörung, die ein Mensch haben kann. Einschließlich Zucker- und Nahrungsunverträglichkeiten oder Probeme mit dem Menstrukationszyklus. Aber natürlich auch Antriebsschwäche, Schlafstörungen, Müdigkeit, Depression und natürlich Hyperaktivität bei Kindern; Kopfschmerzen oder Schilddrüsenerkrankungen werden neu erklärt. Und Übergewicht natürlich auch.
Eigentlich gibt es seitens der ungläubigen Schulmedizin auch schon längst eine umfassende Stellungnahme in Form einer Empfehlung des Robert-Koch-Instituts , die sich bereits 2007 mit dem Thema Kryptopyrrolurie auseinandersetze. Aber diese Publikation wird einfach nicht zur Kenntnis genommen oder in den Weiten des Internets schlicht nicht gefunden, da andere Webseiten der Anbieter die Suchmaschinenplätze 1–10 einnehmen.
Diagnostik beim Heilpraktiker und/oder Orthomolekularmediziner
Dafür findet man spezielle Online-Fragebögen (kostenlos) oder einen Urin-Test für schlappe 53 Euro, der diese Störung nun zweifelsfrei feststellen kann. Ein HPU-Screening kostet lausige 150 Euro. Aber selbstredend sollte man es dabei nicht belassen und lieber weiter orthomoleklarmedizinisch nach Unverträglichkeiten/ Allergien suchen lassen, was dann mit 327 Euro zu Buche schlägt, so jedenfalls die Preisliste einer der Anbieter.
Dazu kommen die Kosten für den Orthomolekularmediziner, den die Mutter und der Bruder regelmäßig aufsuchten. Mir sind aber auch Patienten bekannt, die locker 2500–3000 Euro beim Heilkpraktiker für eine solche ganzheitliche Diagnostik ließen.
Leider konnte sich die Familie eine Behandlung dann nicht mehr leisten. Die Schulmedizin hat nicht geholfen und das Medikament Kryptosan hat zufällig nicht angeschlagen. Dafür war es aber laktose- und glutenfrei. Und natürlich vegan. Und natürlich nebenwirkungsfrei. Aber jetzt sei man machtlos.
Das Medikament ist im Prinzip ein Vitaminpräparat mit B-Vitaminen und Zink. Kann man ja nehmen, muss man aber nicht. Für etwas weniger als 40 Euro (120 Kapseln) zumindest kein Schnäppchen. Oder Wucher, wenn man sich die Vergleichspreise in der Drogerie um die Ecke anschaut.
Der Orthomolekularmediziner hatte also angeboten, weitere Diagnostik über Kinesiologie und weitere Laboruntersuchungen zu machen. Aber dafür war kein Geld mehr da.
Dilemma der Therapie
Wie so häufig ergibt sich hier eine Zwickmühle in der Therapie – sowohl für die Patientin selbst als auch für uns. Wenn ich mich gegen die Familie (Mutter, Bruder) stellen und von einer „Peudokrankheit“ sprechen würde, verspiele ich mir die Chance auf Kooperation. Immerhin gibt es ja einen realen Leidensdruck, auch wenn ich die Ursachen dafür auf ganz anderen Ebenen vermute.
Zudem „können“ die Betroffenen ja scheinbar gar nicht zum Familiengespräch kommen, da dieses immer wieder mit Hinweis auf die „Erkrankung“ abgesagt werden. Selbst wenn ich hier eine Funktionalität der Störungen annehme, ist dem Mädchen als Index-Klient in diesem System doch noch lange nicht geholfen.
Mit ihr selber zu arbeiten ist auch schwierig. Dann müsste sie sich ja GEGEN ihre Mutter und ihren Bruder stellen, was sie noch stärker zum Außenseiter machen würde. Durch die Erkrankung der Familie bzw. die Rücksichtnahme hatte sie sich sowieso schon immer weiter aus sozialen Bezügen zurückgezogen. Ihre eigene Essstörung bzw. depressive Entwicklung erschwert die Übernahme von Selbstständigkeit in der Autonomie-Entwicklung zusätzlich.
Die Idee eines Betreuten Wohnens oder von Hilfsangeboten für die Familie lehnt sie noch ab. Gibt es Ideen, wie man ihr helfen könnte, aus diesem Konstrukt auszusteigen?