TEIL 2 | Stell dir vor, du sitzt deinem Patienten gegenüber und weißt genau: Das bringt nichts. So geht es den Kollegen in sozialtherapeutischen Abteilungen deutscher Gefängnisse. Warum Sexualstraftäter anders krank sind und eine Kastration nichts ändert.
Bereits im ersten Artikel zum Thema wurde klar: Paraphile Störungen sind nicht heilbar. Patienten können lernen, mit ihren Neigungen zu leben, ohne sich selbst und andere zu schädigen – doch entfernen kann man sie nicht. Aufgrund meines beruflichen Hintergrundes möchte ich hier speziell auf die Neigungen und die daraus folgenden Handlungen eingehen, durch welche sich Menschen eine Haftstrafe einhandeln. Sexuelle Neigungen und Handlungen, die das Leben Anderer beeinträchtigen, oft sogar zerstören. Neigungen, die in sogenannten „Sexualdelikten“ gipfeln.
In deutschen Gefängnissen wird verhältnismäßig viel Mühe und Geld darauf verwendet, dieser ungeliebten Subgruppe an Gefangenen ein relativ umfangreiches Therapieprogramm angedeihen zu lassen. Nicht überall stößt dies auf Verständnis, da es dem Bestrafungsbedürfnis des Menschen so völlig konträr geht (insbesondere, wenn man den Mangel an Therapieplätzen in der extramuralen Welt in diese Erwägung miteinbezieht). Viele Bürger dieses Landes wünschen sich eine andere Behandlung von Sexualstraftätern. Eine, die mehr nach Strafe und weniger nach Belohnung aussieht.
Geht man nun aber davon aus, dass ein Täter, der eine solch abscheuliche Tat begeht, nicht allein böse, sondern vielmehr krank sein muss, so führt dies zwangsläufig zu dem Schluss, dass Strafe allein nicht zielführend sein kann. Machen wir uns also bewusst, dass in erster Linie der Schutz der Gesellschaft vor weiteren Straftaten – und nicht etwa eine Form von unangemessenem Impetus mit dieser Deliktgruppe – den Gesetz- und Geldgeber dazu veranlasst, Finanzmittel für Therapien im Vollzug locker zu machen. Ich erspare mir an dieser Stelle, ein weiteres Mal die Wirksamkeit und moralische Vertretbarkeit der Kastrations- oder Todesstrafe zu beleuchten. Zu diesem Gedanken empfehle ich meinen Blogartikel Das schlimmste Verbrechen.
Sexualstraftäter sitzen aus zwei Gründen ein: weil sie Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen hatten (§176 StGB Sexueller Missbrauch von Kindern) und/oder weil sie Geschlechtsverkehr mit einer Person hatten, die nicht damit einverstanden war (§ 177 Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung) Hier muss nochmals differenziert werden: Nicht jeder Vergewaltiger, noch nicht mal jeder Pädokriminelle erfüllt die Kriterien einer paraphilen Störung. Lediglich ein Drittel bis die Hälfte der Kindesmissbrauchstäter erfüllen die Kriterien für eine pädophile Störung (Eher et al. 2010, 2019; Fromberger et al. 2013). Der Prozentsatz an sadistisch gestörten Tätern unter den Vergewaltigern insgesamt beträgt unter 10 Prozent (siehe z. B. Charakteristika sadistischer Sexualstraftäter, Homayon Chaudh).
In einer repräsentativen österreichischen Studie allerdings konnte nachgewiesen werden, dass 92 % der über 1.000 untersuchten Sexualstraftäter unter mindestens einer, 80 % sogar unter zwei oder mehr psychischen Erkrankungen (Depressionen, Suchterkrankungen u. v. m.) litten (Eher et al. 2019). Zum Vergleich: In der männlichen Allgemeinbevölkerung liegt der Wert zwischen 20 und 30 % (Steel et al. 2014). In einem Satz: Die Täter sind zwar psychisch krank, aber nur selten in Sinne einer paraphilen Störung oder Neigung.
Vor diesem Hintergrund sollte man meinen, eine Therapie, egal welche, sollte zu einer Besserung der Situation beitragen. Ob und welche Therapie nun tatsächlich einen Effekt bringt, damit beschäftigen sich viele Studien. Unser in Vollzugspsychologenkreisen sehr geschätzter Kollege Johann Endres beschäftigte sich bereits 2014 intensiv mit dem Thema. Seine Studie Determinanten der Behandlungsteilnahme und des Behandlungsabbruchs bei inhaftierten Sexualstraftätern kam unter anderem zu dem Schluss, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen der Behandlungsteilnahme und dem Rückfallrisiko festgestellt werden konnte. Ausgedeutscht heißt das: Egal, ob sich die verurteilten Sexualstraftäter einer Behandlung unterziehen oder nicht – ein gutes Drittel wird rückfällig. Egal, was zuvor mit ihnen in Haft therapeutisch passiert ist. Für jeden Sexualtherapeuten, insbesondere die Kollegen der SoThA, war diese Studie ein Schlag in die Magengrube.
Begriffserklärung: SoThA
In einigen Anstalten befinden sich sogenannte Sozialtherapeutische Abteilungen. Diese sind spezialisiert auf Gewalt- oder Sexualstraftäter. Auch gemischte Formen kommen vor. In diesen Abteilungen arbeiten psychologische Psychotherapeuten und es wird eine Psychotherapie durchgeführt, während im Rest des Hauses lediglich psychologische Beratung und Betreuung in unterschiedlichem Umfang gewährleistet wird.
Die Gefangenen können sich um eine Aufnahme bemühen, sobald sie rechtskräftig verurteilt sind. In Untersuchungshaft haben sie keinen Anspruch auf eine Therapie, lediglich auf Betreuung durch die Psychologen des Allgemeinvollzuges.
Es folgten viele weitere Studien mit jeweils sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Chana Lischewski beispielsweise vergleicht die Rückfallquote verschiedener Therapien und zeigt auf, dass Gruppenpsychotherapien und soziale Trainings zu einer etwas niedrigeren Rückfallquote führen als Einzelpsychotherapien oder ein Maßregelvollzug gem. §64 StGB (also eine reine Behandlung der Suchtproblematik). (Wirksamkeit der stationären Behandlung von Sexualstraftätern in Deutschland, 2018). Es flammte ein klein wenig Hoffnung auf, quasi der Strohhalm der Sozialtherapeutischen Abteilungen für Sexualstraftäter (SoTha-S). Leider stehen diese Vergleichsstudien zum großen Teil auf wackeligen Beinen. So variiert beispielsweise der Katamnese-Zeitraum zwischen 12 und 60 Monaten je nach Studie.
Nun wird aber (wie oben bereits angerissen) nicht jeder pädophile oder anderweitig vulnerable Mann (wir können die Frauen hier vernachlässigen) straffällig. Ganz wunderbar wäre es also, könnte man die Wirksamkeit präventiver Maßnahmen evaluieren. Hierunter zähle ich beispielsweise Beratungsstellen wie „Kein Täter werden“ oder die Präventionsambulanz der LMU. Aber auch jeden einzelnen Kollegen, der belastete Männer psychotherapeutisch betreut. Die Prävention von Sexualstraftaten ist ein dermaßen komplexes und gleichzeitig undankbares therapeutisches Gebiet. Die Arbeit mit dieser Klientel ist belastend, anstrengend und häufig langwierig und wenig befriedigend. Ein Rückfall bzw. Vorfall ist immer mit einer maximalen menschlichen Katastrophe verbunden.
Vor diesem Hintergrund bleibt nur eines zu tun: den Hut zu ziehen vor den Kollegen, welche sich dieser Aufgabe Tag für Tag aussetzen und sich nicht durch Studienergebnisse demotivieren lassen. Denn ein Ergebnis haben alle Studien gemein: Keine Therapie bringt mit Sicherheit keinerlei Effekt.
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