TEIL 1 | Liebt, wen und wie ihr wollt. Love ist schließlich Love – oder? Bei Menschen mit Paraphilie ist der Übergang von legal zu strafbar fließend. Wie geht man als Behandler und als Gesellschaft damit um?
Mann und Mann geht klar. Frau und Frau sowieso. Mann und Kind? Eher nicht. „Aber heutzutage sehen die Mädels ja auch viel älter aus als früher.“ Was also, wenn er nicht wusste, dass sie minderjährig ist? Ist das eine Pädophilie? Hebephilie? Oder Betrug von Seiten des Mädchens? Was ist mit Fetisch? Füße sind ja seit Quentin Tarantino salonfähig geworden, BDSM seit Christian Grey. Aber was ist mit Fäkalien? Was, wenn jemand nur dann Erregung empfindet, wenn man ihm die Windeln wechselt? Oder er jemanden vergewaltigt? Und Sodomie? Ist Love auch Love, wenn jemand nur dann zum Höhepunkt kommt, wenn er Geschlechtsverkehr mit einer Ziege oder einer Hündin hat? Oder einem Hengst, um die Damen nicht außen vor zu lassen.
Paraphilien sind kein Symptom der Neuzeit. Gerüchten zufolge soll Katharina die Große sogar durch den Geschlechtsverkehr mit einem Pferd zu Tode gekommen sein (Cave: Dies ist wohl nur eine Legende. In Wahrheit starb sie sehr wahrscheinlich 1796 an einem Schlaganfall). Außerdem gibt es eine Unmenge an Hinweisen, dass im alten Rom Pädophilie vom Adel regelrecht zelebriert wurde. Aber steigen wir doch zunächst mit einer Begriffsklärung ein. Die diagnostische Definition ist nämlich weder einheitlich noch auf den ersten Blick intuitiv.
Die Befundung nach ICD-10, ICD-11 und DSM-5 unterscheidet sich in einem kleinen, aber sehr wesentlichen Detail:
Im ICD-10 werden unter der „Störung der Sexualpräverenz“ (aka Paraphilie) alle diagnostisch bzw. klinisch relevanten sexuellen Normabweichungen zusammengefasst, unabhängig davon ob mit ihnen ein Leidensdruck bzw. nachteiligen Folgen für andere Personen verbunden sind.
Im ICD-11 werden zwar paraphile Störungen nicht mehr als Teil der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen klassifiziert, sondern als eigenständige Kategorie innerhalb des Kapitels zu psychischen, Verhaltens- und neurologischen Entwicklungsstörungen gehandelt. Allerdings wird auch in der aktualisierten Fassung des ICD lediglich Bezug auf die Beschaffenheit der Erregungsmuster bezogen. Also allein die Tatsache, ob ein Erregungsmuster normkonform oder atypisch ist, lässt eine sexuelle Neigung zur paraphilen Störung werden
Und spätestens hier wird klar, wie unfassbar subjektiv, konjugierbar und temporär diese Definition ist. Normative Wertvorstellungen ändern sich über die Jahre massiv und beständig. In Deutschland ist Homosexualität beispielsweise erst seit 1994 gesetzlich „erlaubt“. Die gesellschaftliche Akzeptanz erhöht sich von Jahr zu Jahr und unterliegt geographisch starken Schwankungen. In etwa 69 Ländern oder Gebieten der Welt ist Homosexualität noch immer kriminalisiert, in sieben Ländern droht sogar die Todesstrafe. Dass in diesem Fall eine homosexuelle Neigung zu „gegenwärtigem Leiden und Beeinträchtigung des Betroffenen“ führt, liegt auf der Hand. Ist Homosexualität also in Uganda oder sogar in stark rechtskonservativ geprägten Gebieten Deutschlands eine Störung, in Berlin-Mitte aber nicht? Der ein oder andere kopfstarre Psychiater könnte auf die Idee kommen, Homosexualität laut ICD-10 also in einigen Fällen doch wieder als Störung einzustufen.
Das äquivalente Diagnosemanual DSM-5 hat diese Problematik in der aktuellen Version elegant umgangen, indem es zwischen „Paraphilien“ und „paraphilen Störungen“ differenziert. Unter „Paraphilien“ werden hier alle sexuellen Neigungen verstanden, die sich nicht auf sexuelle Handlungen an und mit phänotypisch normalen, körperlich erwachsenen und einwilligenden Menschen beziehen. Eine Paraphilie als solche ist dementsprechend nicht automatisch behandlungsbedürftig und schon gar nicht strafrechtlich relevant. Zu einer „paraphilen Störung“ wird das Ganze dann, wenn der Betroffene einen Leidensdruck verspürt und/oder Dritte durch die sexuelle Praktik geschädigt werden.
Die Definition des DSM-5 trifft den Zeitgeist also sehr viel besser. Sie trägt der Notwendigkeit von Toleranz und Anerkennung normabweichender sexueller Orientierungen sowie der Unverzichtbarkeit von sexuellem Konsens gleichermaßen Genüge. Eine meiner Meinung nach recht gute gute Übersicht über alle Paraphilien findet ihr hier.
Schon lange war man sexuellen Neigungen gegenüber nicht mehr so aufgeschlossen wie im heutigen Westeuropa. Was aber nun, wenn jemand seine Paraphilie oder seine sexuelle Neigung trotz allem nicht mehr haben möchte? Ist eine sexuelle Neigung veränderbar und eine paraphile Störung heilbar?
Die Wissenschaft tut sich immer sehr schwer, ein Krankheitsbild als unheilbar zu titulieren. Ich möchte vorgreifen: Eine vollausgeprägte Paraphilie bzw. paraphile Störung so zu therapieren, dass sie in keiner Form mehr eine Rolle im Leben des Betroffenen spielt, halte ich persönlich tatsächlich für unmöglich. Alle Therapieansätze laufen auf einen kontrollierten Umgang mit den Neigungen hinaus – nicht auf deren Eliminierung. Wie für die meisten psychischen Störungen und Erkrankungen, gibt es auch für diese einen psychotherapeutischen und einen medikamentösen Therapieansatz.
Symptomatisch werden Antiandrogene wie Leuprorelin und Medroxyprogesteronacetat eingesetzt, die die Testosteronproduktion senken und somit den Sexualtrieb insgesamt minimieren oder gar auslöschen. GnRH-Analoga zur Regulation der Hormonproduktion zielen auf dieselbe Wirkung ab. Parallel werden häufig selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) oder sogar, in seltenen Fällen, Antipsychotika zur Beeinflussung der Neurotransmitter im Gehirn eingesetzt.
Wenn man so will, wird – sowohl medikamentös wie psychotherapeutisch – das Problem lediglich umkreist. Man versucht den Sexualtrieb medikamentös einzudämmen, so empfinden die Patienten einfach gar keine sexuelle Erregung mehr. Man arbeitet mit SSRI, damit die Patienten nicht in dysphorische Zustände fallen, welche dann durch paraphile Praktiken kompensiert werden. Und auch in der Psychotherapie lernen die Patienten – nach langen Phasen des Therapiemotivationsaufbaus und der Zielklärung – mit ihren Neigungen umzugehen. Sie lernen Warnsignale und Trigger und alternative Strategien.
Was aber nicht passiert, nicht passieren kann, ist, dass die Fantasien nachhaltig aus den Köpfen der Patienten verbannt werden. Sie sind eben nicht wie ein Virus, gegen das geimpft werden oder ein Krebsgeschwür, dass entfernt werden kann. Es gibt bislang meiner Recherche nach keine einzige Studie, die belegen konnte, dass Paraphilien, paraphile Fantasien und/oder paraphile Vorlieben durch irgendeine Therapie tatsächlich heilbar, im Sinne von eliminierbar, sind.
Eine weitere Schwierigkeit sind die Komorbiditäten oder Koexistenzen. Eine Paraphilie tritt häufig nicht isoliert auf. Die Betroffenen leiden zusätzlich unter Persönlichkeitsstörungen, Impulskontrollstörungen, affektiven Störungen, Sucht- und Angststörungen uvm. Laut den Behandlungsleitlinien zur Störung der sexuellen Präferenz treten hier insbesondere zusätzliche Sucht- und Angststörungen mit 80 % und Persönlichkeitsstörungen mit 90 % auf.
Zweiteres hat mich persönlich nicht verwundert, denn im Kern geht es bei nahezu allen sadistischen und pädophilen Handlungen um Macht und Kontrolle. Diese Motivation ist ebenso der Kern vieler Persönlichkeitsstörungen, allen voran die dissoziale Persönlichkeitsstörung (siehe auch mein Artikel „Mein Patient, der Psychopath“). Wahrscheinlich wird hier in vielen Fällen sogar eine Komorbidität mit der Differentialdiagnose vermischt. Der Patient zeigt also sexuell deviantes Verhalten als Ausdruck seiner Persönlichkeitsstörung und nicht zur Befriedigung seiner paraphilen Bedürfnisse. Spannend hingegen finde ich den hohen Prozentsatz an Sucht und Angsterkrankungen in der Komorbidität bzw. Koexistenz.
Nicht jede paraphile Störung endet in einer Sexualdelinquenz, also einer entsprechenden Straftat. Und umgekehrt kann nicht bei jedem Sexualstraftäter die Diagnose einer paraphilen Störung oder auch nur einer Paraphilie gestellt werden. Aber es überrascht nicht, dass die Prävalenz unter den Sexualstraftätern gegenüber der Normalbevölkerung mit 43–98 % doch deutlich erhöht ist. Am häufigsten – und auch das überrascht nicht, treten hier Pädophilie und sexueller Sadismus auf.
Man kann sogar die Prävalenz verschiedener Persönlichkeitsstörungen den verschiedenen Delikten zuordnen. So weisen Vergewaltiger beispielsweise insgesamt häufiger die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung auf als Pädokriminelle. Bei Vergewaltigern zeigt sich außerdem die Cluster-B-Persönlichkeitsstörung (impulsiv) überrepräsentiert, während bei den Kindesmissbrauchstätern häufig Störungen aus dem Cluster C (unsicher) diagnostiziert wurden.
Das Vorliegen einer speziellen Persönlichkeitsstörung scheint also ein nicht unerheblicher Faktor zu sein, welcher die Schwelle von der paraphilen Störung hin zur Sexualdelinquenz markiert. Dieser Erkenntnis folgend könnten entsprechende Straftaten verhindert werden, würde man frühzeitig die Persönlichkeitsstörung der betroffenen Patientengruppe behandeln. Klingt verlockend. Wir stoßen hierbei allerdings auf zwei weitere Hindernisse:
Paraphilien sind durch keine Therapie eliminierbar. Paraphilien und paraphile Störungen gehen häufig mit anderen psychischen Erkrankungen einher, darunter Persönlichkeitsstörungen. Das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung wiederum erhöht die Gefahr für eine Eskalation in die Sexualdelinquenz. Gleichzeitig sind Persönlichkeitsstörungen ebenfalls schwer bis nicht therapierbar. Die betroffenen Personen unterziehen sich aufgrund von mangelndem Leidensdruck und/oder Angst vor Stigmatisierung äußerst selten einer Therapie.
Das Kind muss also erst in den Brunnen fallen. Der paraphil- und persönlichkeitsgestörte Patient muss erst eine Straftat begehen und verurteilt werden, damit im Rahmen einer Weisung oder Bewährungsauflage eine Therapie angeordnet werden kann. Wie effektiv am Ende ebendiese Therapien sind, damit werde ich mich im zweiten Teil dieses Fachartikels beschäftigen.
Die Schwierigkeit an der Sexualtherapie ist, dass die Anschauung von Sexualität in ständigem Wandel begriffen ist. Mord ist klar. Mord ist immer falsch, überall auf der Welt und vermutlich seit Anbeginn der Zeit. Sexualverbrechen sind kein Mord. Richtig und falsch, strafbar oder nicht: Das hat sich allein in den letzten 30 Jahren massiv verändert. Homosexualität, Vergewaltigung in der Ehe, sexueller Kontakt mit Minderjährigen bis hin zu „der Bedienung an den Hintern greifen“ – nichts ist mehr wie noch vor 30 Jahren.
Hinterherpfeifen und Catcalling wurde vom Kompliment zur sexuellen Belästigung. Was heute in Ordnung geht, kann strafbar sein, wenn ich in Rente gehe. Die Therapie von sexuell deviantem Verhalten verlangt wie kaum ein anderes Feld Flexibilität und Progressivität auf Seiten des Therapeuten – sowohl in Bezug auf die Methoden als auch die Diagnosen.
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