Sexuelle Gewalt an Kindern wird selbst unter Häftlingen zutiefst verurteilt. Wie ich die Täter als Patienten erlebe – und warum die sexuelle Neigung meist nur einen Teil der Wahrheit ausmacht.
Was ist das schlimmste Verbrechen, das du dir vorstellen kannst? Nach kurzem Nachdenken kommen die meisten Menschen zum selben Ergebnis: „Was mit Kindern“. Und wahrscheinlich sind wir uns alle einig, dass die sogenannte „sexualisierte Gewalt an Kindern“, auch „Pädokriminalität“, eines der verwerflichsten Verbrechen darstellt – abscheulich, unmoralisch, abstoßend und nicht nachvollziehbar.
Fangen wir an der Wurzel an: In Befragungen gaben zwischen 3 und 9 Prozent der befragten Männer in Deutschland sexuelle Fantasien bezogen auf oder Kontakte mit Kindern vor der Pubertät an. Das sind neun von hundert Männern. Wie viele Männer habt ihr so in euren Kontakten bei Whatsapp? Dann könnt ihr euch ausrechnen, wie viele Männer mit pädophilen Neigungen ihr kennt. Man kann sich nur ausmalen, wie hoch die Dunkelziffer ist – denn wer gibt denn schon in einer Befragung zu, dass er sich gerne mal an unschuldigen kleinen Kindern vergreifen würde? Zieht man dann noch in Betracht, wie lukrativ sich der Kinderstrich im In- und Ausland darstellt, so muss man sich leider endgültig von dem Gedanken entfernen, Pädophilie beträfe nur ein paar verirrte, perverse Gemüter.
Ob man „ein bisschen“ pädophil sein kann, darüber herrscht sogar unter den Fachleuten keine Einigkeit. Man spricht von einer sogenannten „Kernpädophilie“, sobald ein Mensch (in der Regel ein Mann) sexuelles Interesse ausschließlich für Kinder zeigt. Darüber hinaus gibt es sogenannte „pädophile Nebenströmungen“, also Menschen, die sich auch, aber nicht ausschließlich für Kinder interessieren.
… „interessieren“, was für ein Wort für einen solch abscheulichen Sachverhalt. Man wird schnell sachlich und umschreibend, wenn man viel über dieses Thema sprechen muss. Sonst erträgt man es nicht.
Die meisten Pädokriminellen sind Männer. Ich habe keine verlässlichen Zahlen finden können. Aber aus der Praxis kann ich Ihnen sagen: Frauen, die wegen eines Sexualdeliktes in Haft sitzen, sind selten. Pädokriminelle Frauen sind noch seltener – und solche, die bei ihren Taten selbst sexuelle Handlungen und/oder körperliche Gewalt am kindlichen Opfer anwenden, sind absolute Einzelfälle.
Wenn Frauen sexualisierte Gewalt an Kindern ausüben, übernehmen sie meist infrastrukturelle und organisatorische Aufgaben. Heißt: Sie betreuen die Kinder und liefern sie ihren Peinigern aus. Dann holen sie diese nach dem Missbrauch wieder ab und gehen zum Tagesgeschäft über. Häufig kümmern sie sich auch um die Verteilung der Opfer an die Täter und die Buchhaltung. Am Ende geht es nämlich natürlich ums Geld. Häufig sind solche Täterinnen die Mütter der Opfer. Ein pressebekannter und besonders abscheulicher Fall war ein Paar, welches vor einigen Jahren ein Kind zeugte und zur Welt brachte aus der bloßen Absicht heraus, es sexuell zu missbrauchen und an andere Pädophile zu „vermieten“.
Die meisten Leser kämpfen an dieser Stelle möglicherweise bereits mit ihrem Brechreiz, zumindest aber mit einer aufsteigenden Wut und dem Wunsch, man möge „diesen ganzen Kinderfickern den Penis abschneiden und sie damit füttern“… sofern sie eben einen haben. Oder so ähnlich.
Ich kann diesen Gedanken nachvollziehen und muss sogleich enttäuschen: Das würde so gut wie nichts ändern. Bei diesen abscheulichen Taten geht es meist nicht allein um den sexuellen Akt. Es geht um Macht, es geht um Kontrolle. Ich habe bereits einige Pädokriminelle betreut, die unter teilweiser oder vollständiger erektiler Dysfunktion litten. Ich möchte meinen Lesern die Details ersparen; man kann auch ohne einen Penis vergewaltigen.
Ein weiterer gedanklicher Impuls, der sich häufig aufdrängt, ist es, pädophile Menschen alle wegzusperren, sobald man von ihrer Neigung Kenntnis bekommt. Ich muss ein weiteres Mal enttäuschen: Ein großer Teil der Täter, welche Kinder missbrauchen, vergewaltigen oder anderweitig in die sexuelle Ausbeutung der Opfer involviert sind, sind nicht pädophil. Und ein großer Teil der Menschen mit pädophiler Neigung vergreift sich andererseits nie in ihrem Leben an einem Kind.
Einem nicht unerheblichen Teil der Täter wird im psychiatrischen Gutachten eine Form der dissozialen Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Bei diesen Tätern scheitert es eher daran, dass sie Schwierigkeiten haben, Regeln und Normen zu akzeptieren und nur wenig bis kein empathisches Mitgefühl empfinden. Man will etwas, ergo nimmt man es sich – ob es ein Flasche Schnaps im Supermarkt ist oder die achtjährige Tochter der Nachbarn.
Auf der anderen Seite leiden viele pädophile Patienten höllisch unter ihrer Neigung. Sie halten diese geheim, meiden eigenverantwortlich Schulen, Kindergärten und Spielplätze aus Angst, ihre Triebe nicht kontrollieren zu können. Im besten Fall begeben sie sich in Therapie – wenn sie denn einen Platz bekommen. Bisweilen trägt der Wunsch nach Kontrolle des eigenen Sexualtriebs seltsame Früchte. So erschien vor einigen Jahren ein Gefangener in meinem Büro, welcher aus dem nahegelegenen Krankenhaus überstellt wurde. Das Delikt war ein völlig anderes, aber es stellte sich heraus, dass er unter einer starken pädophilen Neigung und einer vermutlich daraus resultierenden Depression litt. Er scheiterte mehrfach daran, einen Therapieplatz zu bekommen und gab die Suche aus Scham und Antriebsschwäche schließlich auf. In seiner Verzweiflung versuchte er, sich seinen Penis mit einer Küchenschere zu amputieren, woran er auf halbem Wege scheiterte und daraufhin selbst den Rettungsdienst rief.
Diesem bot sich beim Eintreffen ein skurriles Bild: Literweise Blut, welches sich aus seiner Penisarterie auf dem gekachelten Küchenboden verteilte, ließ das Zimmer wie ein unaufgeräumtes Schlachthaus wirken, in welchem kürzlich ein Schwein zum Ausbluten aufgehängt wurde. Inmitten der Blutlache krümmte sich mein Klient mit heruntergelassener Hose in Embryohaltung auf dem Boden, die Gesichtszüge leb- und farblos, der Bewusstlosigkeit nahe. Um die blutige Schere krampften sich noch sein Daumen und sein Zeigefinger. Aufgrund der unklaren Lage wurde die Polizei hinzugerufen, welche dann feststellten, dass ein Haftbefehl (in völlig anderer Sache) offen war. So landete er zunächst im Krankenhaus und schließlich in meinem Büro.
Wie aber „ist“ jetzt so ein typischer Pädo? Um ein Bild zu zeichnen, fasse ich mal sehr verallgemeinernd zusammen: Der typische Gefangene mit pädokriminellem Delikt ist weich, nett, freundlich und angepasst. Ein Opfertyp. Gleichzeitig aber ist er ein aktiver Grenzüberschreiter. Er blockiert mit seinen Belangen unangemessen lange und häufig das Stationsbüro, behelligt die Abteilungsleiterin wöchentlich mit Anträgen und Beschwerden, braucht immer eine zweite Matratze (wegen Rücken) und gibt täglich Antragscheine an den Sozialdienst und den Psychologen ab.
Ich war lange nicht gut in Gesprächen mit dieser Klientel. Ich habe häufig den Moment verpasst, eine klare Grenze zu setzen. Obwohl ich dies ansonsten wirklich gut kann – konfrontieren, begrenzen, subsummieren, zirkulär fragen, auch mal provozieren und vor allem das Gespräch lenken. Das alles war plötzlich weg. Die Gespräche glitten mir regelmäßig aus den Händen wie nasse Seife. Sie dauerten doppelt so lange wie zu Beginn abgesprochen und auch thematisch hatte ich Schwierigkeiten, den Faden zu behalten. Dies gipfelte einst darin, dass ein Klient mich während der Sitzung nach meinen sexuellen Präferenzen befragte. Natürlich brach ich das Gespräch sofort ab und verwies ihn des Raumes. Ich blieb mit dem Gefühl in meinem Büro zurück, dass ich sofort dringend und lang duschen muss.
Da wusste ich: Darin muss ich besser werden. Ich reflektierte das Gespräch ausführlich und konnte mir keinen Reim darauf machen, warum das passiert ist. Ich rief eine Kollegin der SoTha-S (Sozialtherapeutische Abteilung für Sexualstraftäter, siehe blauer Kasten) an und bat um ein paar Minuten. Diese bestätigte mir schnell: „Der hat dich missbraucht. Deshalb fühlst du dich auch so.“ Mein Klient hat in kürzester Zeit meine Grenzen ausgelotet und ist gezielt zu seiner eigenen Befriedigung darüber hinweg gegangen – immer wieder, bis ich ihn, viel zu spät, hinausgeworfen habe.
SoTha-S /-G
In einigen Anstalten befinden sich sogenannte Sozialtherapeutische Abteilungen. Diese sind spezialisiert auf Gewalt- oder Sexualstraftäter. Auch gemischte Formen kommen vor. In diesen Abteilungen arbeiten psychologische Psychotherapeuten und es wird eine Psychotherapie durchgeführt, während im Rest des Hauses lediglich psychologische Beratung und Betreuung in unterschiedlichem Umfang gewährleistet wird.
Die Gefangenen können sich um eine Aufnahme bemühen, sobald sie rechtskräftig verurteilt sind. In Untersuchungshaft haben sie keinen Anspruch auf eine Therapie, lediglich auf Betreuung durch die Psychologen des Allgemeinvollzuges.
Die Analyse meiner Kollegin war so treffend wie wertvoll; ihre Worte habe ich an meine geistige Pinnwand geheftet. Meine Gesprächsführung mit dieser schwierigen Klientel verbesserte sich zunehmend. Gleichzeitig schwand das Interesse der Pädokriminellen, über das Erstgespräch hinaus mit mir im therapeutischen Kontakt zu bleiben. Und die, die blieben, hatten echtes Interesse an Veränderung.
Heute frage ich sehr klar zu Beginn des Gespräches die Motivation ab und übersetze diese in klare Worte. Möchte der Klient eine Absolution, ein „ist nicht so schlimm“ oder ein „daran sind Sie nicht schuld, weil Kindheit/sexuelle Präferenzstörung/dumme Umstände“, so breche ich ab, denn dies kann und will ich nicht bieten. Ich höre mir auch nicht mehr alles an. Sobald ein Klient anfängt, mir Details seiner Tat zu berichten, verbiete ich ihm das Wort und erarbeite mit ihm, aus welchen Gründen er mir dies soeben schildern wollte. Ich akzeptiere auch bestimmte Erklärungsversuche nicht mehr: „Wir hatten eine Beziehung“, „Er/Sie war besonders frühreif“, „Er/Sie wollte das“ – so etwas lasse ich nicht zu.
Früher schwang ich hier die Psychoedukationskeule und erklärte viel zur kindlichen Entwicklung und Reife und warum ein Kind niemals sein Einverständnis für so eine Tat geben kann. Heute weiß ich, dass dies den pädokriminellen Tätern bereits bewusst ist. Diese haben früher meine Erklärung begierig aufgesaugt, frei nach dem Motto „das habe ich ja alles nicht gewusst“ und sich so auf meine Kosten ein bisschen weniger schlecht gefühlt.
Und ja: Die meisten fühlen sich schlecht. Erstens, weil man im Gefängnis mit diesem Delikt in der Hierarchie der Gefangenen ganz unten steht. Zweitens sind diese Menschen nicht frei von Scham. Ihnen ist meist sehr bewusst, was sie da angerichtet haben. Meist auch deshalb, weil ihnen als Kind Ähnliches widerfahren ist. Der sogenannte „Trauma-Wiederholungszwang“ ist ein psychologisches Paradoxon, das beschreibt, wie ein Mensch, dem ein Trauma wiederfahren ist, zwanghaft versucht, dies zu reinszenieren (laut Freud).
Auch wenn man sich dem Ganzen bindungspsychologisch nähert, wird es nicht einfacher: Ein Opfer kindlicher sexueller Gewalt hat in besonders vulnerablen Phasen der Bindungsprägung gelernt, dass Beziehungen missbräuchlich funktionieren. Diese „missbräuchliche Bindungsprägung“ ist leider Gottes sehr stabil. Es wird für ein Opfer pädosexueller Gewalt also ein Leben lang schwierig bis unmöglich bleiben, funktionale und gleichberechtigte Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.
Das Ganze ist also nicht so einfach abscheulich, wie es auf den ersten Blick wirkt. Es ist ein komplexes, tragisches Gefüge aus Persönlichkeitsstörung, sexueller Präferenzstörung, kindlicher Traumatisierung des Täters und der passenden Gelegenheit. Manchmal mehr von dem einen, manchmal weniger von dem anderen. Was aber immer am Ende übrig bleibt: eine zerstörte Kinderseele und ein paar fassungslose Statisten außenherum, die sich nicht erklären können, wie es so weit kommen konnte. Und der unausgesprochene Wunsch in den Köpfen der Gesellschaft nach menschenunwürdigen Strafmaßnahmen, die ja doch nichts ändern würden.
Hilfe für Betroffene mit pädophiler Neigung:
MAN|N SPRICH|T - Der Kinderschutzbund Ortsverband München (kinderschutzbund-muenchen.de)
https://kein-taeter-werden.de/
Hilfe für Opfer kindlicher sexueller Gewalt und deren Angehörige:
https://beauftragte-missbrauch.de/
https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/
www.gegen-missbrauch.de (Verein für Opfer von sexuellem Missbrauch)
https://weisser-ring.de/hilfe-fuer-opfer
Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch: 0800 22 55 530
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