Im Knast landet nur der Abschaum der Gesellschaft, denen fehlt doch jede Menschlichkeit – nicht wahr? Doch ich erkenne immer wieder, wie wenig uns eigentlich von den Insassen unterscheidet.
Bisweilen erschrecke ich vor den Abgründen der Menschheit. Zum Beispiel da, wo Menschlichkeit den Dialog verlässt und Aggression und Polemik freie Bahn verschafft. Ich erschrecke, wie weit Menschen sinken können, wie sie – gedüngt von ihrem eigenen Frust – abscheuliche Auswüchse von schlechtem Benehmen, Verachtung und Überheblichkeit hervorbringen. Auch an Stellen, an denen Demut und Mitgefühl angezeigt wären.
Oh, Sie denken, ich spreche von meinen Gefangenen? Leider nein. Die Rede ist von der extramuralen Gesellschaft, die sich in völliger moralischer Selbstüberhöhung versucht, von „den Straftätern“ abzugrenzen. Man blicke nur einmal in die Kommentarspalte meines Artikels „Aber nicht heute Nacht“. Es ging um einen Mörder und mein Bemühen darum, diesen älteren Herren psychisch zu stabilisieren. Der Artikel spaltet. Einige Leser waren erzürnt, wirkten persönlich verletzt und in ihrer Ehre gekränkt. Andere ergriffen entschlossen Partei. Für mich. Für die Menschen in Haft. Für den Mörder. Das Thema polarisiert. Aber warum ist das so?
In meinem Blog beschreibe ich Straftäter als das, was sie sind – Menschen. Da beginnt das Problem: Personen mit einer hohen inneren Abwehr reagieren sehr empfindlich auf diese Gleichsetzung. Ein Herr Dr. Karlheinz Kalkbrenner aus dem Starnberger Villenviertel möchte nun einmal nicht damit konfrontiert sein, dass der Raubmörder Mietev Polanski vom Regensburger Hauptbahnhof (beide Personen sind selbstverständlich frei erfunden) dieselben inneren Konflikte, Bedürfnisse und Ängste hat wie er. Und schon gar nicht möchte der Herr Doktor, dass Mietev Dinge bekommt, die eigentlich ihm selbst zustehen sollten: Aufmerksamkeit, empathische Zugewandtheit, Verständnis und Respekt. Mietev Polanski sei eine VÖLLIG andere Sorte Mensch als Herr Dr. Kalkbrenner. Darauf baut sich schließlich die Argumentationskette auf, dass Herr Dr. Kalkbrenner niemals eine solch abscheuliche Tat begehen könnte. Es GEHT gar nicht. Es ist ein Naturgesetz, so wie man Wasser nicht anzünden kann.
Würde nun jemand auf die Idee kommen, die Geschichte hinter Herrn Polanskis Raubmord zu beleuchten und die Tat als das Ergebnis einer Kette von Schicksalsschlägen, falschen Entscheidungen und menschlichem Versagen darzustellen, so würde dies bedeuten, eine solche Tat könnte jedem „passieren“. Jeder Mensch wäre fehlbar und zu beinahe jeder Tat in der Lage. Auch der Herr Doktor.
Ich werde gerne noch deutlicher: die Schilderung eines Mörders als Menschen mit Belastungen, Erlebnissen, Plänen und Wünschen – als Individuum mit menschlichen Facetten. Und mehr noch als tatsächlich vollwertigen, GLEICHwertigen Menschen – dies lässt die Grenze zwischen mir und dem Mörder fallen. Die Idee von einem Mörder, der den Mord bereits in seiner Genetik inskribiert hat, fällt. Meine Mauer, meine Abgrenzung, meine Diskriminierung und damit die Überzeugung „Ich kann nie zu einem Mörder werden“ beginnen zu bröckeln. Dies macht Menschen, dies macht Leser aggressiv.
Die Abwehr wird hochgefahren und die besteht – nicht nur bei den alten, weißen Männern – aus Aggression. Sie äußert sich in Form von Polemik, Vorwürfen oder sogar Beleidigungen. Dahinter steht nichts als die pure Angst vor den eigenen, niederen Impulsen. Denn „diese Menschen“ seien ja schließlich „selbst schuld“ und „eine Inhaftierung lässt sich in der Regel gut vermeiden“. Ich wurde dafür angegriffen, Staatsgelder verschwendet zu haben, indem ich den Gefangenen mit der Mordanklage betreut und – vorübergehend – psychisch stabilisiert habe. Aussagen à la „Es gibt für ihn keinen Grund, weiterzuleben … staatliche (also des Steuerzahlers) Ressourcen sollte man für wichtigere Dinge einsetzen. Was seine Familie darüber denkt, halte ich nicht für erheblich.“ All diese Zitate aus den Kommentarspalten sollen in erster Linie eines ausdrücken: Ich bin nicht wie die.
In einer Umfrage von 2018 gab die Hälfte der Männer an, Vergewaltigungsfantasien zu haben. Ich gehe außerdem davon aus, dass annähernd jeder einzelne Mensch Gewaltfantasien hat. Sogar die Frauen. Es ist etwas zutiefst Menschliches und oft sogar Befreiendes, sich die Gewaltausübung an einem Widersacher im Geiste auszumalen. Die meisten Menschen haben allerdings eine Hemmung, diese Fantasien in die Tat umzusetzen. Verschiedene Faktoren können diese Hemmung herabsetzen: Alkohol, Stress in Form von Wut, Trauer, Enge, Hitze, Schmerz und tausend anderen Formen. Oder auch eine Persönlichkeitsstörung.
Die Persönlichkeitsstörung ist dann wieder der rettende Anker, an dem sich die moralisch Überlegenen festklammern. Denn man selbst habe keine Persönlichkeitsstörung. Man sei schließlich kein Psychopath und somit doch wieder auf der sicheren Seite. Lesen Sie dazu gerne meinen Artikel „Mein Patient, der Psychopath“. Es befinden sich weit mehr Personen mit einer dissozialen Akzentuierung unter uns, als Sie wahrscheinlich glauben. Diese schwimmen gut mit dem Strom, da sie sozial angepasst und gebildet sind, aber leider unterscheidet sie dieses Merkmal eben doch wieder nicht von den Straftätern.
Zieht man nun diverse Spielfilme, TV-Dokus oder Reality-Formate zu Rate fällt auf, dass sich „diese Menschen“, die im Gefängnis sind, anders benehmen. Sie sind unwirsch, aggressiv, unkultiviert sogar. Das Gefängnis ist ein rauer Ort, der nicht geeignet ist, seine Umgangsformen zu vervollkommnen. Ich will also gar nicht in Abrede stellen, dass eine gewisse soziale Prägung intramural stattfindet. Es ist wahr: Hält man sich einige Zeit auf unseren Fluren auf, könnte man das Gefühl bekommen, von lauter Barbaren umgeben zu sein. Allerdings beschleicht mich dasselbe Gefühl bisweilen, wenn ich dem ein oder anderen Stammtischgespräch in einem Gasthaus lausche. Ein aggressives Benehmen ist hier häufig ein Schutzmechanismus. Man möchte nicht auffallen und gleichzeitig Stärke signalisieren. Im Gefängnis wie auch am Stammtisch.
All das Proletentum, all die Aggressivität und Provokation fällt übrigens von den meisten meiner Klienten ab, sobald sie mein Büro betreten. Es wird nicht mehr gepöbelt. Die Männer werden leise, oft sogar respektvoll und höflich – in ihrem Rahmen, versteht sich. Das Sozialisationsspektrum meiner Klienten ist groß. Viele sind unter üblen Bedingungen groß geworden und mussten Traumata in ihr Weltbild integrieren, die weit über eine Schramme im Kotflügel des SUV hinausgehen. Nicht jeder hat gelernt, sich gewählt auszudrücken. Insgesamt sagt dies allerdings rein gar nichts über die Persönlichkeit aus. Ich möchte nun nicht so weit gehen wie James Watson seinerzeit, der sagte: „Der Mensch wird gebaut, nicht geboren … Gebt mir ein Dutzend wohlgeformter, gesunder Kinder und meine eigene, von mir entworfene Welt, in der ich sie großziehen kann, und ich garantiere euch, dass ich jeden von ihnen zufällig herausgreifen kann und ihn so trainieren kann, dass aus ihm jede beliebige Art von Spezialist wird – ein Arzt, ein Rechtsanwalt, ein Kaufmann und, ja, sogar ein Bettler und Dieb, ganz unabhängig von seinen Talenten, Neigungen, Tendenzen, Fähigkeiten, Begabungen und der Rasse seiner Vorfahren.“
Als wissenschaftlich denkende Fachkraft kann und will ich den Einfluss der Genetik natürlich nicht leugnen. Ich fürchte aber, der „kriminelle Bauplan“ eines delinquenten Gehirns wird in der Bevölkerung überschätzt. Man trägt ihn als Schutzschild in Diskussionen und in der Meinungsbildung vor sich her, um sich die Welt und die Moral einfacher zu strukturieren – und der lieben Seele so ein wenig mehr Ruhe zu gönnen.
Was aber unterscheidet „uns“ nun wesentlich von „denen“? Die Antwort ist so simpel wie ernüchternd: die Tat. Einige Minuten in ihrem Leben. Und diese werden Sie „denen“ nicht ansehen. Es steht einem Straftäter nämlich nicht auf der Stirn geschrieben. Sie erkennen einen Mörder nicht an seiner „Ganovennase“ oder einen Betrüger an seinem „fliehenden Kinn“. In der Vergangenheit gab es unzählige Bemühungen, potenzielle Straftäter phänotypisch zu detektieren. Von der chinesischen Gesichtslehre (5 Jh. v. Chr.) über die dunklen Kapitel der Rassenlehre im Dritten Reich bis hin zu aktuellen Bemühungen (z. B. durch Dirk Schneemann), Gewinner und Verlierer auf den ersten Blick zu erkennen. All dies hat sich (zum Glück) nicht durchsetzen können, da es den Methoden schlicht an der Reliabilität mangelt. Eine Straftat ist uns eben nicht in die Wiege gelegt – Genetik hin oder her – und kann nicht durch optische Analyse des Gegenübers diagnostiziert oder gar prognostiziert werden.
Laut Google sitzen pro Jahr ca. 70.000 Menschen in Deutschland eine Haftstrafe ab. Da ist die Chance recht groß, dass Sie bereits mit einigen Kontakt hatten und zwischen „denen“ und „uns“ überhaupt nicht unterscheiden konnten. Vielleicht wohnt einer direkt neben Ihnen, und Sie mögen ihn sogar.
Vor diesem Hintergrund sollte man sich unbedingt bewusst machen, dass auch „diese Menschen“ all die giftigen Worte aufnehmen, die in solchen Diskussionen in den Raum geworfen werden. So schrieb mich nach der Veröffentlichung meines letzten Artikels ein Arzt über meinen DocCheck-Account an und dankte mir für meinen Text. Er hatte selbst insgesamt zehn Jahre Haft hinter sich. Er beschrieb all die Dinge, die ich in meinem Alltag beobachte: die Demütigung, den strategischen Kontrollentzug, die Entmenschlichung. Aber auch die kleinen Lichtblicke durch einzelne Bedienstete, die sich weigern, abzustumpfen, und die dem Gefangenen für einen Moment das Gefühl geben, gesehen und als Mensch respektiert zu werden.
Nachdem die Verurteilung und die Haft das Leben jenes Arztes bis auf die Grundmauern niedergebrannt hatten, fand er die Kraft für einen Neubeginn. Er erkämpfte sich einen Platz als „wertvolles Mitglied der Gesellschaft“ zurück und praktiziert nun wieder in einem Klinikum. Vor einigen Tagen las er dann meinen Artikel. Ich kann nur vermuten, wie sehr jeder einzelne gehässige Kommentar geschmerzt haben muss.
Wenn uns schon die Demut und der Weitblick fehlen, um zu erkennen, dass „die“ nichts Wesentliches von „uns“ trennt, könnten wir dann nicht wenigstens versuchen, mit unseren Worten so achtsam umzugehen, dass wir unseren Mitmenschen nicht gerade in dem Moment ins Gesicht schlagen, wenn sie die Deckung unten haben? Wenn wir als kleinsten gemeinsamen Nenner verstehen, dass wir alle Menschen sind – können wir uns dann einfach NICHT gegenseitig verletzen und beleidigen? Ist dieses schlechte Benehmen, diese Aggressivität, diese Rüpelhaftigkeit und dieses unzivilisierte Verhalten nicht genau das, was „uns“ an „denen“ so abstößt?
Lasst uns die Kommentarspalte nicht zum Gefängnisflur machen. Denn indem Sie Straftäter als weniger wertvolle Menschen, als unbedeutende und störende Elemente unserer Gesellschaft ansehen, beleidigen Sie nicht „die“, sondern damit beleidigen Sie „uns“.
Bildquelle: Himanshu Saraf, Unsplash