Im Thriller essenziell – im echten Leben möchte man ihnen ungern begegnen: „Psychopathen“. Warum das Störungsbild komplexer ist als gedacht und was sich mit der ICD-11-Einstufung für Therapeuten ändert, lest ihr hier.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Der Begriff „Psychopathie“ ist fachlich veraltetet, ähnlich wie „Schwachsinn“, „Tobsucht“ oder „Hirnwut“. War die Psychopathie in den ersten beiden Ausgaben des DSM noch enthalten, so wurde sie bereits in der dritten Ausgabe durch den Begriff der Antisozialen Persönlichkeitsstörung (ASPS) ersetzt, welche sich bis zur aktuellen Ausgabe (DSM-5) gehalten hat. In Anlehnung an die Begrifflichkeit des ICD-10 hat sich parallel der Begriff der Dissozialen Persönlichkeitsstörung durchgesetzt. Mit Inkrafttreten des ICD-11 hat sich die Betrachtungsweise der Persönlichkeitsstörungen im Gesamten – und somit die der Dissozialen Persönlichkeitsstörung im Speziellen – grundlegend geändert.
Da die meisten meiner praktizierenden Kollegen mit DSM-4 und -5 respektive ICD-9 und -10 gearbeitet haben, bleiben wir zunächst bei der analogen Definition: Ein „Psychopath“ ist demnach ein Patient mit einer ausgeprägten dissozialen bzw. antisozialen Persönlichkeitsstörung, welche die folgenden Merkmale erfüllt.
Da haben wir zum einen eine anhaltende Missachtung der Rechte anderer. Diese Missachtung wird durch das Vorhandensein von ≥ 3 der folgenden Punkte angezeigt:
Als weitere Definition eines „Psychopathen“ (der Einfachheit halber bleibe ich im weiteren Verlauf bei dieser nicht mehr ganz zeitgemäßen Begrifflichkeit) hat sich ein PCL-R-Wert von über 30 Punkten durchgesetzt. Der PCL-R-Test (Hare Psychopathy Checklist-Revised) ist eines der am weitesten verbreiteten Instrumente in der psychiatrischen Beurteilung von Straftätern. Er ist das Standardverfahren in forensischen Kontexten, um die psychopathischen oder antisozialen Tendenzen einer Person zu bewerten und so eine Prognose bezüglich Gefährlichkeit und Rückfallrisiko des Patienten stellen zu können.
Mit anderen Worten: Ein PCL-R Wert über 25 lässt die Chancen auf vorzeitige Entlassung und Lockerungen rapide schrumpfen. Und das zu Recht, denn dieser Test hat sich mit einer Validität von 0,77 und einer Reliabilität von a = 0,85 als sehr zuverlässig hervorgehoben. Ich persönlich habe noch keinen Patienten mit einem PCL-Wert > 25 gesprochen, welcher im klinischen Eindruck unauffällig (soll heißen: kein Psychopath) war.
Man sollte also meinen, dass es geschultem Fachpersonal nicht entgehen kann, wenn ihnen ein „Psychopath“ gegenübersitzt und ein Instrument wie der PCL-R im Grunde überflüssig sei. Größtenteils ist dies meiner Erfahrung nach auch so (Cave: meine Erfahrung beschränkt sich überwiegend auf den forensischen Kontext). Die völlige Abwesenheit von empathischem Mitgefühl, der Mangel an Einsichtsfähigkeit für die eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten sowie die häufig extrem kurze Zündschnur (niedrige Frustrationstoleranz gepaart mit hoher Impulsivität und Aggressivität) springen einen in den meisten Fällen geradezu an.
Es gibt aber auch noch andere, „leise Psychopathen“ im Kontext des Strafvollzuges. Bei diesen Patienten ist die impulsive Aggressivität weniger stark ausgeprägt – dafür imponieren sie durch stark manipulative, nicht weniger zerstörerische Persönlichkeitszüge und Verhaltensweisen. Solche Patienten wirken angepasst, mitunter sogar charmant. Die Missachtung und Geringschätzung, welche sie ihren Mitmenschen entgegenbringen, ist allerdings dieselbe wie in der ersten Patientengruppe. Freundlichkeit wird eingesetzt als Mittel zum Zweck. Das Ziel ist es, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen (z. B. Sex, Geld, Macht).
Eine voll ausgeprägte dissoziale Persönlichkeitsstörung ist nicht besonders häufig, aber auch nicht so selten, wie es sich vermuten lässt. Laut DSM-5 sind es im Schnitt 2 %. Das entspricht dem Anteil der Rothaarigen in der Bevölkerung. Hier herrscht selbstverständlich kein Kausalzusammenhang – dieses Bild dient der Veranschaulichung der Prävalenz. Männer sind dreimal so häufig betroffen wie Frauen. Es liegt in der Natur der Sache, dass Menschen mit diesem Störungsbild überdurchschnittlich oft hinter Gittern anzutreffen sind und sich in Freiheit nur selten in Therapie begeben, da Krankheitseinsicht wie auch Compliance gegen Null gehen. Außerdem hat diese Klientel in der Regel keinen Leidensdruck.
Sollte sich ein solcher Patient doch zu einem meiner Kollegen verirren, wird es nur wenige Therapeuten geben, die überhaupt bereit sind, mit einem so schwierigen Menschen eine therapeutische Beziehung auszuarbeiten. Wenn sich dennoch ein idealistischer Psychotherapeut oder Psychologe findet, so wird die Therapie ziemlich sicher von Seiten des Patienten an dessen streng hedonistischer Einstellung, der mangelnden Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme oder der konsequenten Missachtung der Bedürfnisse seiner Mitmenschen scheitern.
In der Arbeit als Gefängnispsychologin habe ich also die recht seltene Gelegenheit, regelmäßig mit Störungen aus diesem Spektrum zu arbeiten. Im Kontext der Inhaftierung treten „Psychopathen“ ausschließlich mit konkreten Arbeitsaufträgen oder Zielen an den psychologischen Dienst heran. Niemals, weil sie wirklich an sich arbeiten wollen. Da war beispielsweise ein Herr, welcher seine Frau mit 26 Messerstichen getötet hatte, weil diese zunächst seit Wochen nicht mehr mit ihm schlafen wollte und ihn letztendlich auch noch narzisstisch kränkte, indem sie im Streit seine Arbeitslosigkeit auf den Tisch brachte.
Er erklärte mir, die Frau habe „so keinen Wert mehr“ für ihn und schließlich einen „großen Eigenanteil an ihrer Tötung“ gehabt, da sie ihn provoziert hatte. Der Mann verfasste eine schriftliche Abhandlung, in welcher er dezidiert verargumentierte, warum das Verhalten seiner Frau letztendlich zu ihrer Tötung führen musste. Typisch daran ist die konsequente Abwehr der eigenen Schuld, die aggressiv-impulsive Reaktion auf die Gefährdung der eigenen Bedürfnisse in Form der Übertötung (Anwendung von deutlich mehr Gewalt, als zur eigentlichen Tötung nötig gewesen wäre) sowie die völlige Abwesenheit von Reue oder Trauer über den Verlust einer nahestehenden Person.
Ein weiterer Patient hatte seinen Komplizen getötet, weil dieser damit gedroht hatte, ihn zu verraten. Ursprünglich ging es lediglich um einen kleinen Betrug – am Ende wurde mein Patient wegen Mordes verurteilt. Zunächst wirkt dies wie ein ungeschickter Versuch, eine Straftat zu vertuschen. Aber bei näherer Betrachtung wird klar, dass hier eine massive Persönlichkeitsstörung vorliegt, die für das Tatgeschehen nicht unerheblich war.
In der Güterabwägung macht die Inkaufnahme einer Verurteilung wegen Mordes keinen Sinn: Die ursprüngliche Tat hätte dem Täter eine Bewährungsstrafe eingebracht. Während seiner Untersuchungshaft wendete er sich mehrfach an mich, um ein Gutachten fürs Gericht zu erhalten, welches ihm bescheinigen sollte, dass er unfähig sei, Empathie zu empfinden. In seinem Rechtsverständnis hätte der Richter in diesem Fall einsehen müssen, dass er für die Tötung seines Komplizen nicht belangt werden könne. Und zweitens sei es schließlich „zu 90 %“ die Schuld des Opfers. „Er hätte ja nicht mit Verrat drohen müssen.“ Er habe gewusst, „dass man jemanden wie mich nicht verrät“.
Auch hier finden wir die Rationalisierung der eigenen Handlung durch Schuldumkehr und Schuldabwehr sowie die völlige Abwesenheit empathischen Mitgefühls, Reue oder Trauer. Das Besondere an diesem Fall war, dass der Patient offensichtlich bereits eine Art Krankheitseinsicht bezüglich seiner Persönlichkeitsstörung entwickelt hatte (aus der allerdings keine wirkliche Compliance im Sinne einer Bereitschaft zur therapeutischen Zusammenarbeit erwuchs). Mit mäßigem Benefit: Am Ende war dennoch ein Mensch tot und ein anderer in Haft.
Bis zum Inkrafttreten des ICD-11 ging man davon aus, dass die ASPS eine unveränderbare – daher nicht heilbare – pathologische Veränderung der Persönlichkeit des Menschen sei. Ein Hardware-Schaden, wenn man so will. Man könne hier, wie bei allen Persönlichkeitsstörungen, lediglich Schadensbegrenzung betreiben, indem man mit den Patienten Strategien entwickelt, wie sie mit und in ihrer Umwelt gesellschaftsverträglich zurechtkommen. Die Störung an sich kann nicht behoben werden, da sie als Teil der Persönlichkeit im adulten Individuum nicht mehr modifizierbar ist.
Unter den Fachleuten besteht bis heute keine Einigkeit darüber, welche Behandlung bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen den größten Erfolg verspricht. Klassischerweise stehen drei Möglichkeiten zur Auswahl:
Pharmakologisch kann insofern interveniert werden, als bestimmte Symptome und unerwünschte Zustände abgemildert werden können. Angstzustände und Panikattacken, aber auch Impulsivität und Stimmungsschwankungen können durchaus medikamentös behandelt und damit eine Verbesserung der Lebenssituation der Patienten und deren Umfeld erwirkt werden. So haben sich Anxiolytika, stimmungsstabilisierende Mittel wie Lithium aber auch Antipsychotika in niedriger Dosierung bewährt.
Durch die psychoanalytisch orientierte Psychotherapie werden dem Patienten im Gespräch und durch gezielte Fragestellung seine unangepassten Persönlichkeitszüge und im optimalen Falle deren Genese bewusst gemacht. Versteht dieser dann im weiteren Schritt die negativen Auswirkungen seiner Persönlichkeit auf andere und letztendlich auf sich selbst, kann der Patient im letzten Schritt, gemeinsam mit dem Therapeuten, anpassungsfördernde Verhaltensweisen entwickeln.
In der kognitiven Verhaltenstherapie werden klassischerweise zunächst die dysfunktionalen „Grundannahmen“ des Patienten mit demselben im Gespräch erarbeitet. Man geht davon aus, dass diese dysfunktionalen Grundannahmen (z. B.: „wenn jemand anderer Meinung ist, bedeutet das, dass er mich nicht mag“) zu fehlangepasstem Verhalten führen (z. B. aggressives oder ängstliches Konfliktverhalten). Des Weiteren werden konkrete Strategien zur Stressbewältigung, z. B. mithilfe der systematischen Desensibilisierung, entwickelt.
Alle drei Optionen setzen allerdings eine zumindest minimale Compliance und damit einen Leidensdruck des Patienten voraus. All das fehlt per Definition einem Menschen mit vollausgeprägter Antisozialer/Dissozialer Persönlichkeitsstörung, weshalb diese am Ende ihrer forensischen Karrieren überdurchschnittlich häufig im Maßregelvollzug landen.
Immer wieder erwächst auch der Eindruck im beruflichen Alltag, Menschen mit einem hohen Psychopathie-Faktor seien in Führungspositionen besonders erfolgreich. Eine Arbeitsgruppe um Prof. Gerhard Blickle untersuchte diesen Sachverhalt. Zunächst wurde das Konstrukt „Psychopathie“ aufgeteilt in die beiden Faktoren „furchtlose Dominanz“ und „egozentrische Impulsivität“ (nach Lykken). Man könnte sehr vereinfacht von produktiven und schädlichen Faktoren sprechen. Ist nun der Faktor der furchtlosen Dominanz hoch ausgeprägt und – jetzt wird es spannend – gepaart mit einer hohen Intelligenz, so ist die Wahrscheinlichkeit laut Lykken hoch, eine Person mit gesellschaftlich anerkannten Leistungen vor sich zu haben. Lykken erklärt dies mit einem hohen Bildungsniveau und damit einem hohen Sozialisationserfolg.
Tatsächlich konnten die Wissenschaftler um Blickle genau diese These in einer empirischen Studie mit 161 Teilnehmern bestätigen: Der Psychopathie-Faktor furchtlose Dominanz plus eine hohe Intelligenz ergibt eine positive Mischung, die häufig in beruflichem Erfolg mündet. Die Psychopathie scheint also kein eindimensionales Konstrukt zu sein. Außerdem scheinen andere Faktoren, darunter Intelligenz und Bildungsniveau, schützend zu wirken.
Mit Inkrafttreten des ICD-11 muss die Psychopathie nun sowieso zwangsläufig in einem völlig anderen Licht betrachtet werden. In der neuen Version des ICD wurden alle Persönlichkeitsstörungen mit Ausnahme der Borderline-Persönlichkeitsstörung aufgehoben. Nicht ganz zu Unrecht proklamierte man, das bisherige Konzept begünstige die Stigmatisierung Betroffener. Man kritisierte die mangelnde Trennschärfe und die sich daraus ergebenden hohen Komorbiditäten verschiedener Persönlichkeitsstörungen. Dies führte zu Zweifeln an der Reliabilität derselben.
Einige Verlaufsstudien ließen außerdem Skepsis am Kriterium der Zeitstabilität aufkommen. In Zukunft muss also umgedacht werden: Ein „Psychopath“ ist ab sofort kein defekter Patient mehr mit einer unveränderbar dissozialen Persönlichkeitsstruktur. Ein hoher PCL-Wert muss demnach künftig konsequenterweise nicht mehr als Kriterium für eine mangelnde Therapierbarkeit, sondern lediglich als erhöhter Schwierigkeitsgrad für den Therapeuten betrachtet werden. Wer je den Versuch unternommen hat, mit einem Patienten mit voll ausgeprägter Dissozialer Persönlichkeitsstörung, also einem „echten Psychopathen“, zu arbeiten, wird allerdings zu dem Schluss kommen, dass diese Betrachtungsweise mehr am Wunsch als an der Realität orientiert ist.
Insgesamt herrscht unter Fachpersonen eine große Uneinigkeit über die Definition, die Diagnose sowie die Prognose von Patienten mit „psychopathischer“ Persönlichkeit. Wie so häufig ist es nötig, das Konstrukt differenziert zu betrachten, verschiedene Faktoren zu trennen sowie protektive Faktoren und Resilienzen miteinzubeziehen. Die neue Betrachtung des ICD-11 lässt wieder Raum für Veränderbarkeit und damit für Therapie. Insofern scheint dies ein optimistischer und überfälliger Ausblick in die Zukunft der Psychologie – wenngleich die Festlegung der Psychopathie als therapierbare Störung uns Therapeuten vor massive Herausforderungen stellen wird.
Zusammenfassung für Eilige:
Begriff & Klassifikation:Psychopathie ist veraltet und wurde im DSM durch die Antisoziale Persönlichkeitsstörung (ASPS) ersetzt, im ICD-10 durch die Dissoziale Persönlichkeitsstörung. Im ICD-11 entfielen starre Kategorien zugunsten eines dimensionalen Modells mit Schweregrad und Persönlichkeitstraits.
Klinisches Bild & Forensik:Typisch sind Impulsivität, Empathiemangel, fehlende Reue und Missachtung sozialer Normen. Der PCL-R-Test dient zur Risikoabschätzung (Cut-off ≥ 30). Neben aggressiven Verläufen gibt es auch „leise“, manipulative Formen mit ähnlicher Gefährlichkeit.
Therapie & Prognose:Therapiechancen sind gering – meist fehlt Einsicht und Compliance. Der ICD-11 öffnet theoretisch neue Wege, doch die Praxis bleibt schwierig. Intelligenz kann protektiv wirken, z. B. bei sozial erfolgreichen, aber dissozialen Persönlichkeiten.
Bildquelle: Luke Thornton, Unsplash