Teil 1 | Herr Neuhauser hat seine Frau umgebracht. Jetzt sitzt er mit mir vor den Trümmern seines Lebens und sieht keinen Ausweg mehr. Mein Problem: Ich kann ihn verstehen – und muss hoffen, dass er sein Versprechen hält.
Ein stummer Schrei klebt in ihren weit aufgerissenen Augen – eine Mischung aus Todesangst und nacktem Unglauben, als könne das, was geschieht, nicht wahr sein. Die Falte zwischen ihren Brauen, einst das Banner ihrer Wut bei Streitereien, hat sich tiefer gegraben, verzerrt von Panik, jedoch anders und endgültig. Er ist ein wenig verwundert, dass man Angst tatsächlich riechen kann – metallisch, scharf, mit einem Hauch von Schweiß und Verfall. Ein Geruch, der bleibt.
Der Griff des antiken, wertvollen Revolvers liegt angenehm weich in seiner Hand. Der Hahn spannt beinahe lautlos. Alles fühlt sich an wie ein letzter Atemzug. Die Wucht der Kugel reißt ihren Kopf nach hinten, sie sinkt zu Boden, hinfort aus seinem Leben. Blut läuft in einem Rinnsal aus dem Einschussloch auf ihrer Stirn. Die 60 Jahre haben kaum Spuren hinterlassen in ihrem Gesicht. Dezent geschminkt, die akkurate Frisur vom Sturz ein wenig derangiert – und ein Loch im Kopf. Mit offenen Augen liegt sie leblos vor ihm auf dem blank gebohnerten Bootsdielenparkett. Die Liebe seines Lebens.
Ganz ruhig tritt nun er die Treppe hinauf. Stufe für Stufe, als zählte jeder Tritt ein Leben. Das alte Haus atmet Erinnerungen an seine Familie – das Patschen von Kinderfüßen, das Lachen hinter Türen. Im zweiten Stock öffnet er das Fenster im Flur. Die Luft ist still. Dann springt er.
Vier Wochen später sehe ich Herrn Neuhauser das erste Mal. 65 Jahre, ein Kinderarzt kurz vor der Rente. Seine Ehe war seit einiger Zeit zu einer irreparable Ruine zerfallen. Die Kinder waren aus dem Haus und man hatte sich wie erwachsene Menschen geeinigt. Das Vermögen war gerecht aufgeteilt, der Hund blieb bei der Frau, das Haus und der Porsche bei ihm. Es war kein Problem, sie auszubezahlen. Ihm war selbst nicht klar gewesen, wie sehr ihn die Sache mit dem Liebhaber gekränkt hatte. So überraschend kam das ja nicht. Und dennoch: In dem Moment, in dem sie es ihm mitteilte, schalteten jegliche Kontrollmechanismen in seinem Kopf ab. Er ging ins Schlafzimmer, holte den Revolver aus dem Safe und verschaffte seinem narzisstisch gekränkten Ego Gerechtigkeit.
Herr Neuhauser ist ein sympathischer älterer Herr mit einwandfreien Umgangsformen. Er hatte sich bei dem Sprung aus dem Fenster beide Unterschenkel, die Knie und den Kiefer gebrochen. Nachdem man ihn im nahegelegenen Klinikum einigermaßen wiederhergestellt hatte, verlegte man ihn auf unsere Krankenstation. Die Knochen heilten, bald konnte er wieder stehen, ein paar Meter laufen, selbständig zur Toilette und sich waschen. Alle mochten den freundlichen Herrn; es schien gut zu laufen. Das Ganze hatte nur einen Haken: Herr Neuhauser wollte nicht mehr leben. Er hatte bilanziert und war zu dem Schluss gekommen, dass es für ihn keinen Platz mehr auf dieser Welt gab.
Wir sprechen einmal die Woche, manchmal öfter. Er bittet nicht darum. Er bittet um nichts, wehrt sich aber auch nicht. Er versucht, uns so wenig Arbeit wie möglich zu machen. Fast schon verzweifelt versuche ich, seine Bilanzierung zu durchbrechen, seine letale Argumentationskette ins Wanken zu bringen und sein Plädoyer der eigenen Wertlosigkeit zu widerlegen. „Frau Pisch, ich bin 65 Jahre alt und habe meine Frau getötet. Bei guter Führung komme ich in 15 Jahren raus, dann bin ich 80 Jahre alt. Wenn ich so alt werde. Ich wohne in einem kleinen Ort, alle wissen, was ich getan habe. Wie soll ich dorthin zurückkehren? Oder mit 80 Jahren ein neues Leben anfangen?“ Ich versuche dann, die Kinder ins Spiel zu bringen. Und als verzweifelten Versuch vielleicht noch anzuführen, dass er in Straubing (dorthin werden Straftäter dieses Kalibers meist verlegt) doch auch noch lebenswerte Zeit verbringen könne.
Sie können sich vorstellen, dass diese Argumentation eher keinen durchschlagenden Erfolg erzielt. Herr Neuhauser bleibt latent suizidal. Und ja: Es wurde diskutiert, ob sein Zustand als latent oder doch eher als akut einzuschätzen sei. Die Konsequenz einer akuten Suizidalität in Haft ist allerdings die Unterbringung in einem sogenannten BgH (s. Infobox). Ein massiver Einschnitt in die Selbstbestimmung und Würde eines Menschen. Aber eben besser als tot. Weil man dies einem höflichen älteren Herren schlicht nicht antun will, aber auch, weil Herr Neuhauser auf unsere Bitte immer wieder versprach, sich zumindest „heute Nacht“ oder „übers Wochenende“ nicht zu suizidieren, einigte man sich auf eine „latente Suizidalität“.
Ein meist gekachelter Raum ohne bewegliche Gegenstände. Häufig mit einer Stehtoilette ausgestattet, da man sich in regulären WCs ertränken könnte. Fensterlos oder milchverglast. Zum Schlafen dient eine Matratze auf dem Boden und eine Decke. Beides aus reißfestem Material, damit diese nicht in Streifen gerissen und Seile damit geknüpft werden können, mit denen sich der Gefangene strangulieren könnte. Der Gefangene wird komplett entkleidet und erhält eine Unterhose aus papierähnlichem Material, welche unter Zug schnell zerreißt. Der Raum ist auf Körpertemperatur geheizt, so dass der Inhaftierte nicht frieren muss.
Die Gefangenen werden hier im Falle einer akuten Selbst- oder Fremdgefährdung für den Zeitraum ihres kritischen Zustandes untergebracht. Siehe auch meine Artikel „Sadistische Gefängniswärter: Haben wir ein Problem?“ und „Psychose: Wegsperren ist (k)eine Lösung“.
„Meine Familie will zu Besuch kommen. Meine beiden Kinder und meine Schwägerin. Ich kann das nicht. Ich habe Angst. Ich habe das auch gar nicht verdient. Ich habe Elise getötet. Ihre Mutter! Und Marthas Schwester.“ Sein Kinn sinkt auf die Brust, seine alten blassen Augen verlieren sich in der Leere des Zimmers. Gesprächspause. Wichtig. Unangenehm. Nicht einfach widersprechen, spreche ich mantramäßig im Geiste vor mich hin. „Was glauben Sie, ist im Sinne Ihrer Familie? Wollen die Sie sehen?“ Ein plumper Versuch, einen Perspektivenwechsel anzustoßen. Aber was anderes fiel mir partout nicht ein.
„Naja klar, sonst würden die ja nicht kommen. Obwohl. Vielleicht ist es ja reine Höflichkeit.“ „Kann schon sein. Aber wenn nicht, wäre es frech, wenn sie einfach nicht erscheinen. Vielleicht sind Sie Ihnen das schuldig?“ War das zu forsch? Ich hoffe darauf, dass der Besuch ihn stabilisiert. Die Gewissheit, dass die Familie hinter ihm steht. Wobei? Woher weiß ich denn, dass die hinter ihm stehen? „Alleine schaff’ ich das nicht.“ Ich jubiliere innerlich, denn endlich kommt ein Wunsch, eine Bitte, ein Arbeitsauftrag. Obwohl das Vorgehen für eine Anstaltspsychologin eher unorthodox ist, sage ich Herrn Neuhauser zu, ihn zu dem Besuchstermin zu begleiten.
Drei Tage später ist es soweit. Kaum habe ich das Häufchen Elend in seinem Rollstuhl in den Besuchsbereich geschoben, passt mich auch schon ein junger Kripobeamter ab. Das Klischee tropft ihm aus seiner schwarzen Lederjacke, als er sich nonchalant wippend zwischen mich und meinen Klienten schiebt. Seine akkurat gegelten, dunklen Haare glänzen im Schein der Neonröhren. Er deutet mit seinem Kinn nach links, um mich für ein paar Sätze unter vier Augen von Herrn Neuhauser zu separieren. Mir passt das nicht. Ich bin hier, um meinen Patienten zu stützen. Getuschel mit den Ermittlungsbeamten wäre jetzt ein fatales Signal.
Die Kripo weiß natürlich, wer ich bin, und dass ich an diesem Tag den Besuch begleite. Das ist kein Standardvorgehen. Psychologen begleiten keine Gefangenenbesuche. Die Polizei war also neugierig und sah eine Chance für ein paar „exklusive Infos unter der Hand“. Ich widerstehe dem Impuls, seiner nonverbalen und gleichzeitig recht autoritären Forderung nachzugeben und frage lautstark, was es denn gibt. Meine Hände klammern sich so fest um die Griffe des Rollstuhls, dass sich meine Knöchel weiß verfärben.
Fast so, als wolle ich mich selbst daran hindern, mit dem jungen Beamten mitzugehen und mich ausquetschen zu lassen. „Vielleicht können wir nachher mal reden? Wir tappen da ja ziemlich im Dunkeln, was das Motiv angeht. Und Sie als Psychologin sind da ja näher dran.“ – „Sorry. Schweigepflicht“, erwidere ich abgehackt. „Wir können ja auch mal telefonieren und in Ruhe…“ – „Nee, echt nicht. Schweigepflicht. Das mein‘ ich ernst“, unterbreche ich ihn.
Ich bilde mir ein, wie ich Herrn Neuhauser aufatmen höre und bin ein bisschen stolz auf die klaren Worte, die ich gefunden habe. Als Gefängnispsychologin arbeite ich zwar für die Justiz, bin aber mitnichten Erfüllungsgehilfin der Ermittlungsbehörden. Leider versuchen diese häufig, das uns Fachdiensten Glauben zu machen, durch entsprechendes Auftreten und bisweilen auch mal mit Nachdruck und Drohungen. Ein Staatsanwalt kündigte mir zu Beginn meiner Justizkarriere einmal Erzwingungshaft an, wenn ich mich nicht bereit erklären würde, vor Gericht über die Inhalte der Gespräche mit einem Klienten auszusagen. Das war klar rechtswidrig, aber in diesem Moment wurde mir doch ein wenig bang.
Herr Neuhausers erwachsene Kinder treten ein, gemeinsam mit einer älteren Dame. Es muss sich um die Schwägerin handeln. „Papa, wie geht es dir?“ flüstert der Sohn. „Gut … also geht.“ Die Tochter beginnt zu weinen, die Tante nimmt sie in den Arm. Der Polizist sitzt links neben mir und kritzelt etwas auf einen Zettel. Der Sohn hat Schokolade aus dem Automaten im Besuchsbereich dabei und fragt, ob er die aushändigen darf. Der Polizist nickt, der Sohn reicht die drei Tafeln über die Trennscheibe. Herr Neuhauser sinkt weinend zusammen. Ich nehme die Tafeln entgegen. Was für eine familiäre Vollkatastrophe. Nichts Tröstendes ist in Sicht.
Der Polizist schiebt mir wortlos den Zettel hin – sein Blick ein Trommelfeuer stummen Befehls. Ich spanne meine Haltung wie ein Drahtseil, starre geradeaus, rühre keinen Muskel. Neugier brennt in mir, ja. Aber was glaubt der eigentlich, wer er ist? Ich war vorhin glasklar. Mein Klient – neben mir – bricht leise in sich zusammen, ein Häufchen Elend. Ohne den Blick von den trauernden Angehörigen zu lösen, schiebe ich den Zettel elegant und ungelesen zurück. Was darauf stand, weiß ich bis heute nicht.
Herr Neuhauser wird nervös. Er versucht, im Rollstuhl aufzustehen. „Ich kann das nicht. Ich schaff das nicht. Ich will zurück. Ich will hier weg…“ Ich versuche, ihn zu beruhigen. Der Sohn redet auf ihn ein, erklärt, wie wichtig er für die Familie ist und dass alle hinter ihm stehen. Herr Neuhauser aber will nur weg. Zurück in seinen Haftraum. Ich stammele ein paar Worte des Bedauerns und erhebe mich von meinem Stuhl. Schmalzfrisur neben mir ist sichtlich verwirrt: „Wie, ist der Besuch jetzt vorbei, oder was?“ – „JA!“, belle ich ihm ein bisschen zu laut ins Gesicht. „Sieht ganz danach aus, oder?!“
Ich bringe den aufgewühlten alten Mann in seinem Rollstuhl aus dem Besuchsraum, die Kinder rufen ihm nach: „Papa, wir lieben dich!“ Herr Neuhauser resümiert auf dem Weg zurück auf seine Station: „Nicht mal das habe ich hingekriegt.“ Außer ‚ach was‘ und ‚vielleicht klappt es beim nächsten Mal‘ fällt mir in diesem Moment auch nichts ein. Ich sitze noch eine ganze Weile mit ihm im Haftraum. Weil ich nicht weiß, wie ich ihm sonst helfen kann.
Ich bewegte mich an diesem Tag vollkommen außerhalb meines gewohnten Terrains. Weder begleite ich normalerweise Gefangene zum Besuch, noch verbringe ich mehrere Stunden am Stück Zeit mit ihnen. Und schon gar nicht sitze ich in den Hafträumen herum. Aus Sicherheitsgründen, aus Gründen der Diskretion, aus Gründen der Distanz. Und weil sich das eben falsch anfühlt. Nur an diesem Tag nicht. An diesem Tag war es das Einzige, was stimmte.
Es war gottlos: Ich fand einfach keinen Grund, warum dieser Mann weiterleben sollte. Das Leben hielt nichts, aber auch gar nichts mehr für ihn bereit. Und so saß ich einfach neben ihm in seiner kleinen Grabkammer. Die Wände beschmiert mit Parolen, Obszönitäten und den Qualen hunderter Gefangener vor ihm. „Sie müssen nicht bleiben.“ – „Ich weiß.“ Es folgten weitere hundert Jahre Schweigen. Irgendwann stand ich mit einem tiefen Atemzug auf, vereinbarte mit ihm einen Gesprächstermin für den nächsten Tag und ließ mir versprechen, dass er morgen noch da sei, damit ich mir in dieser Nacht keine Sorgen machen musste. Denn dies war das einzige Argument, welches ihn vom Suizid entfernte: seiner Umwelt nicht noch mehr Kummer zu bereiten.
Ich sprach mit der diensthabenden Ärztin. Wir beide sahen eine mehr als „latente“ Suizidalität. Aber keiner sprach es aus. Wir beide konnten uns nur schwer vorstellen, diesen alten, gebrechlichen Herren entkleiden zu lassen und die ganze Nacht auf einer Matratze am Boden zu lagern. Er käme allein gar nicht vom Boden hoch, um auf die Toilette zu gehen. Und das nach diesem Tag. Herr Neuhauser war „bündnisfähig“ (s. Infobox). Außerdem waren noch zwei weitere Gefangene in seinem Zimmer untergebracht, er war also nicht allein. Man einigte sich, dass der Patient seinem Leben wohl irgendwann ein Ende setzen würde, aber nicht heute Nacht. Und so beschloss die Ärztin, ihm seine Würde zu bewahren und ihn in dieser Nacht in seinem Krankenbett zu belassen. Mit nichts als dem Versprechen, uns allen keinen Kummer zu bereiten.
Denn manchmal bleibt nicht mehr. Kein Grund weiterzuleben, kein Anlass zu lächeln, keine Worte, die zu trösten vermögen. Nur die pure Anwesenheit eines anderen Menschen und das Bestreben, diesem nicht auch noch zur Last zu fallen.
Bildquelle: Andrew Petrischev, Unsplash