In der täglichen Visite geht es gerne mal drunter und drüber. Da kommt man als Arzt schnell durcheinander – und macht was falsch. Warum reden wir immer noch nicht über Fehlerkultur?
Es ist Montagmorgen, im Krankenhaus nimmt der Alltag seinen Lauf.
Das Telefon klingelt: „Reanimation in der Notaufnahme? Ich komme!“Sie rennt los. So geht das jeden Tag.
Was ist daraus geworden? Durch Arbeitsverdichtung, Ökonomische Zwänge und ständige Erreichbarkeit ist eine geordnete Visite fast unmöglich geworden. Warum ist das ein Problem? Die ständigen Störungen und Metaarbeit führen zum Übersehen von Befunden und Fehlern mit fatalen Folgen – wie hier mit der Morphin-Anordnung. Die Hektik zerstört Vertraulichkeit und führt zu Misstrauen bei den Patienten („Der Arzt hat keine Ahnung, kann nicht mal eine Minute zuhören“). Wie kann es sein, dass eine Berufsgruppe mit einer hochkomplexen Arbeit und Verantwortung für Menschenleben so arbeiten muss? In welchem anderen Beruf sind solche Personen jederzeit so ungefiltert erreichbar?
2011 schlug im Klinikum Bremen‑Mitte eine Infektionswelle auf der Frühchenstation zu. Innerhalb weniger Monate infizierten sich 23 Neugeborene mit einer multiresistenten ESBL‑Klebsielle – drei Frühchen starben, einige weitere wurden schwer krank, die Station wurde geschlossen. Wie konnte es dazu kommen? Durch Fehler auf mehreren Ebenen. Der gefährliche Erreger war bereits Monate zuvor entdeckt, aber Dokumentation und Meldekette versagten. Dem Hygienebeauftragten fehlte die Qualifikation, das Pflegepersonal war unterbesetzt, zuständige Behörden haben nicht ausreichend geprüft. Zudem wurden Standard-Operating-Procedures (SOPs) und Hygieneempfehlungen nicht eingehalten. Die Kommunikation zwischen Pflege, Ärzteschaft und Verwaltung war defizitär, mehrfach wurden Warnsignale ignoriert, Entscheidungen verzögert, die Übersichtsstruktur versagte. Das Ergebnis: Eine vermeidbare Katastrophe, ausgelöst durch organisatorisches Versagen – und nicht durch medizinische Unfähigkeit.
Kurzzeitig: Ja. Es gab mediale Aufregung, politische Versprechen und Taskforces für Patientensicherheit. Doch der große Systemwechsel, wie ihn die Luftfahrt nach Teneriffa 1977 erlebte, blieb aus. In vielen Kliniken gibt es bis heute keine flächendeckenden Human-Factors-Trainings, keine gelebte Fehlerkultur – und kaum Schutz vor Wiederholung.
Am stärksten integriert ist Human Factors/CRM in der Luftrettung, vor allem wegen der Nähe zur Luftfahrt. Dort sind strukturierte Briefings und Debriefings sowie CRM-Training selbstverständlich. In der Anästhesie, Intensiv- und Notfallmedizin (z. B. Reanimationsteams, Schockräume) hat CRM in vielen Kliniken Einzug erhalten – etwa in Form von Simulationstrainings, „Team-Time-Outs“, Checklisten (z. B. WHO-Surgical Safety Checklist) und strukturierten Nachbesprechungen. In der Chirurgie ist die Umsetzung uneinheitlich. Universitätskliniken und große Zentren sind oft weiter, viele kleinere Häuser haben aber keinen flächendeckenden Ansatz. Auf Normalstationen, in der Inneren Medizin oder in der Pflege ist CRM oft kein systematisch integrierter Bestandteil – hier dominieren Improvisation und individuelle Erfahrung.
Es bewegt sich also etwas: In einigen Bereichen der Medizin hat man aus den Fehlern gelernt. In vielen, insbesondere akutmedizinischen Bereichen sind strukturierte Kommunikation, Checklisten und Team-Briefings heute gängige Praxis. Doch je weiter man sich von der „Flughöhe“ entfernt, desto seltener trifft man auf gelebte Fehlerkultur: Auf Station, im Alltag, in der Routine – dort, wo die meisten Patienten betreut werden – bleibt Human Factor Training oft ein Fremdwort. Es fehlt an Zeit, Struktur und Verbindlichkeit.
Dabei wäre genau das nötig. Dringend. Patientensicherheit hängt 2025 noch stark von einzelnen Abteilungen oder engagierten Personen ab. Die Frage bleibt: Müssen wieder Menschen sterben, bevor sich etwas wirklich ändert?
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