Die Pilotin nutzt ihre privaten Kopfhörer, der Bordcomputer hat mal wieder kein WLAN und beim Start platzt die Stewardess ins Cockpit: „Der O-Saft ist abgelaufen, darf ich den noch servieren?“ Im Flieger undenkbar, in der Medizin Alltag – ein Kommentar.
Stellt euch einmal folgendes Szenario vor: Eine Pilotin in Deutschland, Flug von Berlin nach Ankara.
Was sagt ihr – würdet ihr gern mit dieser Airline fliegen?
Kann es sein, dass eine Berufsgruppe mit einer hochkomplexen Arbeit und Verantwortung für Menschenleben so arbeiten muss? Sind Piloten in der Realität jederzeit derart ungefiltert erreichbar?
Die wichtigsten Probleme:
27. März 1977, Flughafen Los Rodeos, Teneriffa. Zwei vollbesetzte Boeing-747-Maschinen – eine von KLM, eine von Pan Am – setzen sich in dichtem Nebel auf derselben Startbahn in Bewegung. Der KLM-Kapitän startet, obwohl die Pan-Am-Maschine noch nicht die Bahn verlassen hat. Es kommt zur Katastrophe: 583 Menschen sterben – bis heute das schwerste Unglück der zivilen Luftfahrt.
Was war passiert? Kein technischer Defekt, keine Sabotage. Sondern: Kommunikationsfehler, Stress, unklare Rollen, uneindeutige Anweisungen, keine Rückversicherung. Der Tower sprach fehlerhaftes Englisch, die Nebelbänke machten alle blind. Der KLM-Kapitän glaubte, eine Startfreigabe erhalten zu haben. Der Co-Pilot ahnte das kommende Grauen, aber widersprach nicht deutlich genug. Und niemand hatte das große Ganze im Blick.
Heute gilt das Unglück als Geburtsstunde des „Crew Resource Management“ (CRM): Ein Trainingskonzept, das Abläufe standardisiert, Hierarchien abbaut und menschliche Schwächen berücksichtigt. Piloten und Kabinenpersonal lernen seither, sich gegenseitig zu kontrollieren, klar zu kommunizieren – und im Zweifel lieber nochmal kritisch nachzufragen. Denn: Nicht nur Maschinen, gerade auch Menschen haben ihre Limits. Wer das ignoriert, fliegt im schlimmsten Fall in den Tod.
In der Luftfahrt gab es mit dem Unglück von Teneriffa einen Paradigmenwechsel. Das sogenannte „Human Factor Training“ – also die bewusste Berücksichtigung menschlicher Fehlbarkeit in komplexen Systemen – ist heute verpflichtender Bestandteil jedes Cockpits. Kommunikation, Checklisten, Feedbackkultur: Nichts wird dem Zufall überlassen.
Und die Medizin? Hier arbeitet das medizinische Personal täglich unter Zeitdruck, mit unvollständigen Informationen, oft in hierarchischen Strukturen. Gibt es in diesem Umfeld eine ebenso systematische und transparente Auseinandersetzung mit Fehlern? Haben Human Factors, Simulationstraining und Crew-Kommunikation längst Einzug gehalten – oder macht letztlich doch jeder, was er will?
Wenn Letzteres stimmt, dann passieren vermutlich auch hier täglich Fehler – mit teils fatalen Folgen. Fragen über Fragen.
Bildquelle: Midjourney