Teil 2 | Bei jeder unserer Begegnungen hat Herr Neuhauser mir versprochen, sich bis zum nächsten Termin nichts anzutun. Dieses Mal nicht. Wie konnte ich die Warnsignale nur übersehen?
Ein Notruf von der 16. Der Betrüger mit den „Brustschmerzen“. Seit Tagen ergaunert der sich einen Platz auf der Krankenstation, indem er Herzinfarktsymptome vorgibt. ‚Der kann wieder nicht schlafen und will jetzt, dass sein persönlicher Bespaßer vorbeischaut, um ihm die Zeit zu vertreiben‘, denkt sich Ernst. ‚Ganz bestimmt nicht. Der kann schön warten. Der arme Typ, der mit ihm den Haftraum teilen muss. Das ist dieser Kinderarzt. Ein guter Typ. Immer höflich, stört nicht, beschwert sich nie.‘
Ernst hat Nachschicht. Acht Stunden, in denen man zwischen den Stechrunden mal dazu kommt, ein gutes Buch zu lesen oder im heimlich reingeschmuggelten Handy stundenlang stumpf Reels anzuschauen. Die Sprechanlage ist mal wieder kaputt, also hätte Ernst jetzt aufstehen und die Lage an der Kostklappe checken müssen. ‚Gleich. Nur noch schnell das Reel von dem Fitness-Influencer. Der ist echt gut‘ – wisch – ‚Oh mei, die Katze. Die wird doch nicht? … hat echt in die Müslischüssel gepinkelt.‘ Ernst lacht laut auf. Die rote Leuchtiode an der Wand glimmt vor sich hin. Wisch. ‚Uuuh, ein Krokodil mit der Hand füttern? Das kann nicht gut gehen …‘
Ein Klopfen ertönt vom Gang. Der Betrüger von der 16 will seinem Anrecht auf nächtliche Zerstreuung akustisch Nachdruck verleihen. Ernst geht das gegen den Strich, aber er schaltet das Display aus. Flugmodus an und das Handy in der Tasche verstecken. Noch einen Schluck Kaffee. Plötzlich wird das Klopfen lauter. Nicht nur einer klopft. Die anderen Gefangenen steigen ein. Plötzlich wird es laut auf dem Gang. Ernst springt aus seinem Bürostuhl und stürzt aus der Tür. Geschrei … „DER HÄNGT!“, „IHR DRECKSCHWEINE!“, „WACH AUF, DU WICHSER“. Ein solcher Aufstand passiert nur, wenn die Gefangenen in den anderen Hafträumen mitbekommen haben, dass irgendeine Scheiße passiert ist. Ernst wird schlecht. Er rennt zur 16, die Beine wie aus Blei, das Herz ein Hammer.
Nicht einfach aufreißen, redet er sich zu. So etwas kann immer auch eine Falle sein. Inszeniert. Nie allein in einen Haftraum gehen. Vor allem nachts nicht. Ernst ist ein wenig schwindlig, weil er so schnell aufgesprungen ist. Er dreht den massiven Schlüssel im Schloss der Kostklappe herum. Es dauert eine Ewigkeit. Die Stahlklappe fällt mit einem Krachen herunter und gibt den Blick frei.
Der Betrüger steht mit eingefrorenem Gesicht neben der Tür, die Hand noch immer am Notrufknopf. Neben ihm Herr Neuhauser, tot.
Die Spurensicherung wird seinen Tod später eindeutig als Suizid einordnen können. Der Betrüger hatte ihn viel zu spät gehört. Herr Neuhauser schnarchte stark, weshalb der Betrüger stets mit Ohrenstöpseln schlief.
Zwölf Stunden zuvor, Freitagnachmittag, fünfzehn Uhr. Ich habe meine Praktikantin Marie im Schlepptau. Der erste sonnige Tag seit Wochen. Eigentlich will ich heim. Und Marie auch. Aber wir haben den Neuhauser noch auf der Liste. Der muss noch. „Kinderarzt, 65 Jahre, hat seine Frau erschossen, als er erfahren hat, dass sie einen Liebhaber hat. Nach der Tat in suizidaler Absicht aus dem Fenster gesprungen. Hat sich alle Knochen gebrochen, aber hat überlebt. War lange in der Klinik. Körperlich ziemlich im Arsch, aber so langsam wächst alles wieder zusammen. Seit ein paar Tagen läuft er schon wieder ganz ordentlich. Latent suizidal. Eigentlich dauerhaft. Ich spreche den ein- bis zweimal die Woche.“
„Warum muss der nicht in diesen BgH (siehe Infobox unten), wenn der doch suizidal ist?“, stellt Marie die Frage, mit der sich unsere Juristen, Ärzte und wir Psychologen seit dem Zeitpunkt seiner Einlieferung beschäftigt hatten. „Naja, du willst halt so einen alten Herren nur ganz ungern im Papierhöschen in einem fensterlosen Verließ verrotten lassen“, versuche ich, es auf den Punkt zu bringen. „Außerdem ist er bis jetzt wirklich gut bündnisfähig (siehe Infobox unten). Ich lasse mir von ihm immer versprechen, dass er sich bis zu unserem nächsten Gespräch nichts antut und dann mache ich einen Termin mit ihm aus. So ist das Ganze für ihn überschaubar und bewältigbar.“
„Und das klappt?“ – „Ja, eigentlich schon. Er ist ein sehr angepasster und sozialer Typ, der keinen Ärger machen will. Der ist schon immer hart am Bilanzieren, aber wenn man ihm dann erklärt, welchen Impact sein Suizid auf seine Umwelt hätte, distanziert er sich wieder.“ – „Also, wie schlimm das für seine Familie wäre?“ – „Auch. Und ich nutze schon auch unsere Beziehung und erkläre, dass ich mir Sorgen um ihn mache und gerne sicher wissen möchte, dass er zu meiner nächsten Schicht noch am Leben ist. Stimmt ja auch.“ – „Unser Prof in der Klinischen sagt auch immer ‚Beziehung ist das A und O in der Therapie‘.“ Marie zieht die Oberlippe lang, als sie ihren Professor nachahmt. Ich muss ein bisschen lachen.
Als wir auf dem Gang der Krankenstation ankommen, steht Herr Neuhauser auf dem Gang. Er stützt sich auf die Griffe des Rollstuhles seines Mitgefangenen aus der Nachbarzelle. „Frau Pisch! Wie schön, Sie zu sehen. Wir wollten gerade in den Hof, das Wetter ein bisschen genießen.“ – „Herr Neuhauser, wie schön, dass Sie in den Hof gehen. Das erste Mal, seit Sie hier sind, richtig? Das ist übrigens Frau Sonnleitner, meine Praktikantin.“ Der alte Herr lächelt zufrieden. Er sieht fast ein bisschen glücklich aus. „Ja, richtig. So ein Wetter kann man ja nicht ungenutzt vorbeiziehen lassen. Und Peter hier wollte auch raus, da begleite ich ihn.“
„Sie sind ja richtig gut drauf. Das freut mich. Wollen wir dann unser Gespräch verschieben und Sie gehen die Sonne genießen?“ – „Gerne, Frau Pisch. Ich wünsche Ihnen alles Gute und Danke für alles. Einen schönen Feierabend.“ Herr Neuhauser lässt die Griffe des Rollstuhls los, richtet sich auf, sieht mich mit festem Blick an und reicht mir die Hand zum Abschied. Man gibt Gefangenen hier drinnen nicht die Hand. Das ist nicht üblich. Aber natürlich greife ich zu und freue mich über meinen frühen Feierabend. Wie zum Teufel kann man nur so viele Dinge auf einmal übersehen?
Die Entscheidung zu einem Suizid verläuft in verschiedenen Phasen (z. B. nach Pöldinger):
Ich brauche nicht zu erwähnen, in welcher Phase sich Herr Neuhauser an diesem Freitagnachmittag befand. Das gute Wetter tat sein Übriges. Sonne = Serotoninausschüttung = Aktivierung des Organismus. Der Patient findet womöglich durch dieses kleine Puzzleteil die Kraft, seinen Suizidplan in die Tat umzusetzen.
Eine plötzliche Stimmungsaufhellung bei einem depressiven, latent suizidalen Patienten bedeutet höchste Alarmstufe, erstes Semester klinische Psychologie. Besonders tragisch: Mehreren Mitarbeitern war die gute Laune von Herrn Neuhauser aufgefallen. Da er aber seit einigen Tagen neue Medikamente bekam, schob man es hierauf. Eine Änderung in der Medikation ist allerdings ebenfalls ein Risikofaktor. Wenn der antriebssteigernde Effekt vor dem stimmungsaufhellenden Effekt eintritt (sei es aufgrund eines Einnahmefehlers oder warum auch immer), so hat der Patient das erste Mal seit langer Zeit die Energie, das zu tun, was er schon lange tun wollte. Im Falle eines latent Suizidalen ist das eben, sich umzubringen.
Auch die unübliche Abschiedsgeste übersah ich in freudiger Erwartung meines frühen Feierabends. Als ich Samstagfrüh im Radio von dem Suizid erfuhr, war dies das erste Bild, das mir in den Kopf schoss. Herr Neuhauser hatte sich von mir verabschiedet. Mit einem festen Händedruck. Für immer. Dass ich vor lauter Gedanken an einen Spätnachmittag am See unser Ritual vergaß und mir eben NICHT seinen Verzicht auf Selbsttötung versprechen ließ, kam ihm gerade recht. Ob das etwas geändert hätte? Ich habe keine Glaskugel, aber möglicherweise schon. Auch in der letzten Phase der Suizidalität sind die Betroffenen oft noch auslenkbar.
In den vergangenen zehn Jahren saßen so einige Menschen an meinem Tisch, die im sogenannten „Nachtatverhalten“ einen massiven Suizidversuch unternommen und nur durch Glück und eine darauffolgende Inhaftierung überlebt hatten. Die meisten konnten durch Gespräche und Medikation stabilisiert werden. Häufig braucht es einfach einen Bruch des Plans im richtigen Moment. Jemanden, der hinsieht. Jemanden, der nachfragt, der einschreitet. Ich war es an diesem Tag nicht. Ich habe nichts gesehen und nicht hinterfragt. Ich habe Herrn Neuhauser nicht gerettet.
Bildquelle: Chris Liverani, Unsplash