In Deutschland gibt es erste Einzelfälle der Doppelmutante B.1.617. In Indien gibt der explosionsartige Anstieg der Infektionszahlen Experten Rätsel auf. Ist die Variante denn wirklich so schnell und gefährlich, wie manche befürchten?
In Indien wütet SARS-CoV-2 derzeit besonders schwer. In vielen Kliniken fehlt es an Sauerstoff, um COVID-Patienten beatmen zu können. Mehrere Länder haben inzwischen ihre Hilfe angekündigt, darunter auch Deutschland. Um die Ausbreitung hierzulande zu verhindern, gilt bereits ein Einreiseverbot aus Indien.
Die explodierenden Infektionszahlen geben indes Rätsel auf. Nach der drastischen Corona-Welle im letzten Sommer hatte man angenommen, dass Indien das Schlimmste hinter sich hätte (wir berichteten). Im Oktober sanken die Zahlen rapide, obwohl viele Beschränkungen gelockert wurden. Eine Erklärung war, dass viele Menschen bereits unbemerkt infiziert gewesen waren und sich eine gewisse Immunität in der Bevölkerung entwickelt hätte. Darauf hatten Seroprävalenz-Studien im Land hingedeutet. Ob sich möglicherweise doch nicht so viele Menschen infiziert haben, wie gedacht, oder ob der Immunschutz langsam wieder abnimmt, darüber wird derzeit viel diskutiert.
Eine besondere Rolle scheinen wohl auch die neuen Corona-Varianten zu spielen, unter anderem B.1.617. Sie wurde in Indien zum ersten Mal am 5. Oktober entdeckt und war relativ unauffällig, bis sie ab Januar in immer mehr Proben auftauchte.
Die WHO stuft die Virusvariante bislang als Variant of Interest (VOI) ein – eine potentiell besorgniserregende Variante für die es aber noch keine eindeutigen Hinweise auf eine erhöhte Infektiösität oder Gefährlichkeit gibt. B.1.617 ist eine sogenannte Doppelmutante und heißt so, weil sie gleichzeitig die Mutationen E484Q und L452R im Spike-Protein trägt. Beide Mutationen stehen in Verdacht, dem Virus das Andocken und Eindringen in menschliche Zellen zu erleichtern.
Doch ob B.1.617 wirklich infektiöser ist als andere Varianten, ist noch völlig unklar. Sie ist auch gar nicht die einzige Variante, die sich in Indien derzeit stark ausbreitet. Neben B.1.617 steigen auch die Fallzahlen mit der britischen Variante B.1.1.7 und der Variante, die zuerst in Südafrika aufgetaucht ist (B.1.351). Noch scheint sich dort keine einzelne Variante klar durchzusetzen, wie es in Großbritannien und auch in Deutschland mit B.1.1.7 der Fall war.
Einige Wissenschaftler sehen dennoch schon jetzt Hinweise auf eine erhöhte Infektiösität. So ist die Mutation L452R schon einmal bei einer Corona-Variante neu aufgetreten, nämlich bei einer Variante, die in Kalifornien erstmals entdeckt wurde. Dort dominierte sie bald das Infektionsgeschehen. Laborexperimente unterstützen die These, dass die Mutation L452R mit höherer Viruslast und höherer Infektiösität einhergeht.
Auch ein Blick nach Großbritannien scheint Hinweise dafür zu liefern. Dort sind die Fälle, in denen B.1.617 sequenziert wurde, innerhalb von zwei Wochen von unter 0,2 % auf über 1 % angestiegen (wir berichteten). Damit zeigt sie laut einer britischen Wissenschaftlerin momentan die schnellste Ausbreitung im Land und erinnert an den Beginn der Ausbreitung von B.1.1.7 – nur, dass sie dies jetzt unter viel strengeren Beschränkungen tue. Allerdings muss man dazu sagen, dass die meisten dieser Fälle auf Reisende zurückgehen. Von einem starken Ausbruchgeschehen kann daher noch keine Rede sein. In Deutschland ist die indische Variante bislang 21 mal nachgewiesen worden.
Erste Untersuchungen zum Impfschutz sehen vielversprechend aus. Sie lassen vermuten, dass sich die neue Variante dem Immunsystem nicht so leicht entziehen kann. So zeigen die vorläufigen Ergebnisse von In-vitro-Neutralisationstests, dass sowohl rekonvaleszente Seren als auch Blutseren von Menschen, die mit dem Vakzin Covishield geimpft wurden, Schutz gegen die B.1.617-Variante bieten. Bei Covishield handelt es sich um den Impstoff von AstraZeneca, der in Indien für den dortigen Markt produziert wird.
Untersuchungen mit Covaxin, dem in Indien selbst entwickelten Impfstoff, kommen zu ähnlich guten Ergebnissen: Die Neutralisation von B.1.617 war zwar geringer verglichen mit Ursprungsvariante, sie war aber nur um das 2-fache niedriger. Bei der Südafrika-Variante hingegen gab es eine fast 6-fache Reduktion der Neutralisation durch gebildete Antikörper. Das lässt erste Hinweise darauf zu, dass Impfungen der Bevölkerung Schutz vor B.1.617 bieten werden.
Wahrscheinlich sind mehrere Faktoren für die drastische Lage in Indien verantwortlich, wie in einem lesenswerten Nature-Beitrag diskutiert wird. Einerseits tragen möglicherweise die neuen Corona-Varianten ihren Teil dazu bei. Es könnte auch sein, dass sich das Virus derzeit vor allem in jenen Bevölkerungsschichten ausbreitet, die sich in der ersten Welle noch gut schützen und isolieren konnten, also eher wohlhabendere Schichten. Von der ersten Welle war vornehmlich die ärmere Bevölkerung betroffen.
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