Die indische Variante B.1.617 mischt das Vereinigte Königreich auf. Zwar sind es erst wenige Fälle, doch eines zeichnet sich bereits jetzt ab: Die Mutante ist schnell.
Großbritannien gilt seit gestern nicht mehr als Corona-Risikogebiet. Das Robert Koch-Institut teilte mit, dass die Bundesregierung das Land wegen der stark gesunkenen Infektionszahlen von der Liste der Gebiete mit besonders hohem Infektionsrisiko durch bestimmte SARS-CoV-2-Virusvarianten streicht.
Damit entfällt für Einreisende aus Großbritannien auch die Quarantänepflicht. Die britisch-deutsche Mathematikerin Prof. Christina Pagel sieht jedoch in der Ausbreitung der Variante B.1.617 aus Indien eine neue besorgniserregende Entwicklung. Christina Pagel ist Direktorin des CORU (Clinical Operational Research Unit) am University College in London, einem Forscherteam, das sich der Anwendung von Datenanalyse und mathematischer Modellierung auf Probleme im Gesundheitswesen widmet.
Die bei Sequenzierungen gefundenen Fälle der Variante aus Indien B.1.617 seien in Großbritannien innerhalb von zwei Wochen von unter 0,2 % auf über 1 % angestiegen, so schreibt sie auf Twitter. Damit zeige sie momentan die schnellste Ausbreitung im Land.
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Pagel schreibt: „Die Zahlen verdoppeln sich jede Woche – ähnlich wie bei B.117, als sie anfing zu wachsen. Aber B.1.617 tut dies jetzt unter viel strengeren Beschränkungen und bei mehr geimpften Menschen hierzulande. Weil die Variante aus Indien B.1.617 eine ‚variant under investigation‘ ist, werden durch ihren Anstieg bislang keine vermehrten Testungen oder forensischen Kontaktverfolgungen durchgeführt.“ Das liege daran, dass es bisher keinen definitiven Beweis dafür gäbe, dass die Variante entweder infektiöser sei oder der Immunantwort besser entkommen könne als B.117.
Die Wissenschaftlerin sieht in diesem abwartenden Vorgehen ein großes Problem. „Wir wissen, dass B.1.617 in einigen Teilen Indiens mittlerweile vorherrscht. Im Bundesstaat Maharashtra stieg der Anteil innerhalb weniger Wochen von ~20 % auf ~60 % der Fälle. Indien sequenziert aber nur weniger als 1% der Proben und viele Infizierte bekamen (oder bekommen) nie einen Test.Bisher haben nur 8 % der Bevölkerung eine erste Dosis des Impfstoffs erhalten. Also wird ein endgültiger Beweis für eine höhere Infektiösität oder eine möglicherweise erhöhte Infektionsrate bereits genesener oder geimpfter Menschen wahrscheinlich eine Weile dauern.“
Die so genannte „Doppelmutante“, wie B.1.617 auch genannt wird, ist mittlerweile die häufigste aller erfassten Varianten in Indien. Dies geht aus aktuellen Genomsequenzierungsdaten hervor, die von indischen Wissenschaftlern an eine globale Open-Source-Datenbank übermittelt wurden. Die Linie mit den zwei Spikeprotein-Mutationen, E484Q und L452R, war in den Proben, die in den 60 Tagen vor dem 2. April sequenziert wurden, mit 24 % am häufigsten vertreten. Die Variante wurde in Indien zum ersten Mal am 5. Oktober entdeckt und war relativ unauffällig, bis sie ab Januar in immer mehr Proben auftauchte. Am 1. April machte sie schließlich 80 % aller analysierten Genomsequenzen aus, die von Indien an die globale Wissenschaftsinitiative GISAID geschickt wurden.
Christina Pagel ist skeptisch, ob entsprechende Daten aus Indien früh genug zur Verfügung stünden. „Weil wir in Großbritannien sehr viel Sequenzieren, könnten wir sogar das erste Land sein, das für B.1.617 solche Beweise [für erhöhte Infektiosität oder geringere Wirkung der Impfungen, Anm. d. Redak.] liefert. Aber wenn wir das tun, ist B.1.617 wahrscheinlich schon ziemlich weit verbreitet und es könnte zu spät sein, sie einzudämmen.“
In ihrem Thread auf Twitter spielt die Mathematikerin schließlich mehrere Szenarien durch, wie sich die Ausbreitung von B.1.617 auf Großritannien auswirken könnte. Sie plädiert dafür, Indien wieder auf die „rote Liste“ zu setzen, um eine weitere Ausbreitung besser kontrollieren zu können.
Auch der Journalist John Burn-Murdoch gab seine Einschätzung auf Twitter ab. Er rät ebenfalls dazu, jetzt aufmerksam zu sein, aber nicht in Panik zu verfallen.
„Die Variante, von der man annimmt, dass sie für die derzeitige zweite Welle in Indien verantwortlich ist (B.1.617), wurde in Großbritannien gefunden, und die Zahlen steigen dort relativ schnell an. Trotzdem sind sie noch sehr klein (<100 sequenzierte Fälle bisher), was bedeutet, dass zufällige Muster bei den Testungen einen großen Einfluss auf den Verlauf der Gesamtkurve spielen könnten. Wir können dies bei der brasilianischen und südafrikanischen Variante sehen, deren beider Trends alles andere als etabliert sind.“
Die Schlüsselfrage sei nun: Funktionieren die Impfstoffe bei B.1.617 genauso gut wie bei B.1.1.7?
Auch er schreibt: „Wir kennen die Antwort darauf noch nicht, aber ich vermute, dass wir das bald herausfinden werden, wenn die Impfungen in Indien weiter fortschreiten.“ Für ihn gehöre die Entwicklung dieser Variante in die Kategorie „eine, die man sehr genau im Auge behalten muss“.
Doch er schreibt auch: „Nebenbei bemerkt: In Großbritannien wird derzeit viel Lärm um Varianten gemacht. Es ist gut, vorsichtig zu sein und die Dinge sehr genau im Auge zu behalten, aber einiges von dem, was ich gesehen habe, hat die Grenze zum Alarmismus überschritten. Das bietet den Leuten im Allgemeinen keine Informationen, die sie gebrauchen können, sondern schürt Ängste unter den bereits extrem Ängstlichen.“
Bildquelle: Steve Barker, Unsplash