In Indien sinken die Infektionszahlen derzeit drastisch. Warum ist das so? Dafür gibt es einige Erklärungsversuche.
Im letzten Jahr war Indien eines der am stärksten betroffenen Länder der Corona-Pandemie. Mitte September beliefen sich die diagnostizierten Neuinfektionen auf fast 100.000 an einem einzigen Tag. Doch seit Oktober sinken die Zahlen kontinuierlich. Woran das liegt? Es gibt mehrere Erklärungsversuche.
Doch erstmal zu den Fakten. Insgesamt haben sich in Indien bislang 10 Millionen Menschen nachweislich mit SARS-CoV-2 infiziert. Rund 150.000 Todefälle sind verzeichnet worden, das entspricht einer Sterblichkeitsrate von 1,5 Prozent. Zuverlässig sind diese Zahlen aber nur bedingt.
Vermutlich waren die Infektionszahlen sogar stets höher. Gerade in ärmeren und ländlichen Gebieten werden kaum Corona-Tests durchgeführt. Darauf deuten auch Seroprävalenz-Studien aus dem letzten Jahr hin. Sie hatten ergeben, dass in der Hauptstadt Neu Delhi etwa jeder dritte Bewohner Antikörper gegen SARS-CoV-2 im Blut aufweist. In den Slums von Mumbai waren sogar mehr als die Hälfte der Menschen bereits infiziert.
Auch die Todesstatistiken zeichnen nur ein ungenaues Bild von der Lage. Schon vor der Corona-Pandemie wurden nur 85 Prozent aller Todesfälle überhaupt registriert. „In Delhi wird bei nur 63 Prozent der Toten ein Totenschein ausgestellt“, sagte der Mediziner Hemant Shewade der Zeitung The Hindu. „Und das ist die Hauptstadt.“ Auf dem Lande sehe die Erfassung noch schlechter aus, so Shewade.
Möglicherweise hängt die relativ geringe Sterblichkeit auch mit der Alterstruktur des Landes zusammen. Von den knapp 1,3 Milliarden Einwohnern sind nur etwa 6 Prozent über 65 Jahre alt. In Deutschland sind zum Vergleich fast ein Viertel der Bevölkerung älter als 65 Jahre. Und insbesondere Ältere haben das Risiko eines schweren COVID-19-Verlaufs.
Andere vermeintliche Erklärungen für weniger schwere Verläufe und Todesfälle reichen von der in Indien empfohlenen Tuberkulose-Impfung für Säuglinge bis hin zu einem stärkeren Immunsystem der indischen Bevölkerung. Man vermutet, dass eine Tuberkulose-Impfung über die unspezifische Aktivierung des Immunsystems auch gegen SARS-CoV-2-Infektionen helfen könnte. Bewiesen ist das bislang allerdings nicht.
Warum die Infektionszahlen derzeit so rasant sinken, könnte mit der ungewöhnlichen Lockdown-Strategie des Landes zusammenhängen. Indien hat zu Beginn der Pandemie einen harten Lockdown angeordnet – am 24. März wurde das komplette öffentliche Leben in dem Land heruntergefahren inklusiver strenger Ausgangssperre. Das Land behielt diesen Lockdown mit einigen wenigen Lockerungen bis Ende Mai bei. Tägliche Neuinfektionen in Indien. Quelle: worldometer
Anfangs konnten die Neuinfektionen damit noch niedrig gehalten werden, doch irgendwann kletterten die Infektionszahlen trotzdem nach oben. Anfang Juni infizierten sich nachweislich 10.000 Menschen täglich, Tendenz steigend. Trotzdem startete das Land im Juni mit den sogenannten „Unlock“-Phasen, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.
Nach und nach öffneten Tempel, Kirchen, Moscheen, Restaurants und Einkaufszentren. Ausgangssperren gab es zu Beginn des „Unlock 4.0“, der Anfang September in Kraft trat, nicht mehr. Selbst Hochzeiten durften wieder gefeiert werden. Die Lockerungen resultierten in knapp 100.000 Neuinfektionen täglich.
Jetzt – im sogenannten Unlock 9.0 – liegen die Neuinfektionen wieder bei unter 10.000 täglich, Tendenz sinkend. Möglicherweise ist das Land damit nah an der Herdenimmunität dran. Untersuchungen der indischen Regierung ergaben Ende Januar immerhin, dass in einigen Distrikten Dehlis bereits knapp 60 Prozent der Einwohner Antikörper aufweisen.
Einen gewissen Schutz vor Neuinfektionen durch eine Durchseuchung der Bevölkerung hatte man allerdings auch für die brasilianische Stadt Manaus erwartet. Dort sollen sich laut einer Studie bereits 76 Prozent der Einwohner mit dem Virus infiziert haben. Trotzdem steigen die Infektionszahlen wieder dramatisch an. Warum das so ist, darüber disktutieren aktuell Experten: Möglicherweise waren doch nicht so viele Menschen bereits infiziert wie Studien nahelegen oder die Immunität, die durch die erste Welle erreicht wurde, nimmt bereits wieder ab. Andere vermuten, dass die neuen Virusvarianten für die neuen Infektionen verantwortlich sind.
Bildquelle: Yogesh Pedamkar, unsplash