Teil 2 | In der Hausarztpraxis spielt die Depression eine große Rolle. Wie ich sie als Ärztin erlebe, ist ganz unterschiedlich, wie vier Fallbeispiele zeigen.
Im ersten Teil habe ich versucht, einen Blick auf die Depression aus Sicht der Patienten zu beschreiben. In diesem Beitrag soll es um die Perspektive des Arztes (also meine) gehen. Viele Menschen mit psychischen Beschwerden kommen zu mir. „Ich habe gehört, mit Ihnen kann man reden.“ Das macht mich stolz. Das ist mein Beitrag zur sprechenden Medizin.
Und dennoch weiß ich manchmal auch nicht sofort, was den Patienten fehlt, wenn sie vor mir sitzen. Manchmal würde ich gerne die Diagnose aus der Hüfte schießen, aber das geht nicht, denn gerade die psychischen Themengebiete überlappen sich. Und manchmal steckt hinter einer Depression auch eine organische Erkrankung, eine Schilddrüsenerkrankungen, hirnorganische Störungen, oder Medikamente.
In Lehrbüchern teilt man die Erkrankung anhand ihrer Ursache in endogen und exogen/reaktiv ein. In der Praxis ist das nicht relevant. Ein Burnout ist auch eine Form der Depression und eine Depression kann sich nach einer belastenden Situation entwickeln. Dennoch ändert es nichts an der Tatsache, dass es den Patienten schlecht geht, auch wenn es eine greifbare Ursache gibt.
Man hat bei Patienten einen Serotoninmangel im Gehirn festgestellt, aber was war zuerst? Der Botenstoffmangel oder die Depression? Huhn oder Ei? Vielleicht löst eine Depression an sich ja den Mangel an Serotonin aus, man ist sich nicht so sicher darüber, und daher sollte man nicht nur medikamentöse Therapie einleiten. Manchem Menschen helfen Medikamente auch gar nicht.
Und dann sind da noch die ganzen Differentialdiagnosen: Zwangsstörungen, Panikstörungen, Phobien, manische und hypomanische Phasen, Suchterkrankungen, Borderline, posttraumatische Belastungsstörungen.
Für mich als Hausärztin gilt es aber viel mehr zu erkennen, ob eine Depression vorliegt, oder ob die Ursache eine organische ist. Und dann die entsprechenden Schritte einzuleiten. Im Folgenden möchte ich einige Beispiele beschreiben, die deutlich machen, inwiefern die Depression in der Hausarztpraxis auftauchen kann. Es handelt sich nicht um Fälle, dich ich „gelöst“ habe. In den meisten Fällen gibt es so etwas wie „die Lösung“ nicht. Aber man kann versuchen, da, wo es möglich ist, Halt zu geben.
Eine junge Frau kam zu mir und sagte, sie habe Depressionen. Sie kenne das von sich, seitdem sie ein junges Mädchen war und wisse, damit umzugehen. Aber diesmal sei es anders. Schwieriger. Sie habe schon mit ihrem Psychiater gesprochen und wieder mit den Medikamenten angefangen, sie mache auch Gesprächstherapie und Sport, aber nichts helfe.
Und dann saß sie vor mir und ich fragte mich, was denn nun meine Aufgabe sein könne. Sie war bereits angebunden beim Facharzt, machte Therapie und alle Maßnahmen, die man privat so tun kann. Ich bot ihr an, einmal die Woche zu sprechen. Einfach so. Ein kurzes Status-Update zwischendurch, um etwas Struktur zu bieten. Und so machten wir es. Sie sagte irgendwann, diese kurzen Termine hätten ihr Halt gegeben. Und sie hätten ihr geholfen, einige Dinge in ihrem Kopf zu sortieren, Frust loszuwerden, den Job zu wechseln und neu anzufangen.
Ein junger Mensch drückte mir in der Sprechstunde sein Tagebuch in die Hand. Darin standen erschreckende Dinge. So erschreckend, dass ich mit diesem jungen Menschen sofort eine Einweisung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie besprach und organisierte. Die Eltern wurden kontaktiert und ich sagte zu den Mitarbeiterinnen, dass ich in der nächsten halben Stunde keine Patienten betreuen kann, denn erfahrungsgemäß dauert die Organisation und die Besprechung mit den Angehörigen lange.
Einige Wochen später kam die Familie wieder zu mir und berichtete. Es war besser, aber noch nicht gut. Eine Depression zu überwinden, dauert Monate.
Eine Dame in den mittleren Lebensjahren, eine starke und bodenständige Frau, wollte mit mir reden. Sie versuche es jetzt schon lange alleine zu regeln, aber es gehe nicht mehr. Sie komme kaum noch aus dem Haus, wolle niemanden sehen, nichts bereite ihr mehr Freude. Sie war so klar über ihren Zustand, dass die Diagnose einer Depression beinahe schon als blinkender Leuchtpfeil über ihr schwebte. Ganz ohne Doktor Google. Dennoch nahm ich ihr Blut ab und machte Diagnostik, um nichts Organisches zu übersehen.
Wir fanden keinen freien Termin bei einem Psychologen, also kam sie regelmäßig zu mir. Wenn auch nur kurz. Und wie bei der jungen Frau aus dem ersten Beispiel waren die kurzen Termine wie eine Art Anker in ihrem Leben. Wir sprachen über Antidepressiva und ich verordnete ihr eines, das wir Schritt für Schritt erhöhten. Es ging ihr langsam immer besser. Irgendwann kam sie nur noch, um mir mitzuteilen, dass es ihr gut gehe. Und irgendwann sagte sie: „Ich komme nur noch, wenn was ist, ok?“
Eine ältere Patientin kam regelmäßig mit immer den gleichen Herzbeschwerden. Sie schilderte jedesmal ihre Ängste, die ich regelrecht spüren konnte, und ich ließ mich jedesmal auf die Diagnostik ein, um ihr die Angst vor einem plötzlichen Tod zu nehmen. Im Nachhinein war das vielleicht nicht sonderlich klug, denn dadurch kann man den Menschen auch das Gefühl geben, etwas Organisches müsse ja vorliegen, „wenn sogar der Arzt guckt“, aber ich wollte ihr damit eher zeigen, dass es nichts Schlimmes ist. Als ich sie irgendwann vorsichtig ansprach, ob es ihr denn psychisch gut gehe, wie die Stimmung so sei, da wurde sie ungehalten. „Ich bin doch nicht verrückt!“, schimpfte sie und fühlte sich von mir in die Psycho-Ecke gedrängt. Aber wenn das Leben verrückt, nicht mehr an seinem Platz steht, braucht man eben Hilfe. Ich kam nie an sie heran.
Psychische Erkrankungen spielen in der Hausarztpraxis eine große Rolle, weil Hausärzte oft der erste Ansprechpartner sind. Wir müssen „filtern“ und die organischen von den nicht-organischen Erkrankungen trennen, daher ist eine Diagnostik bei jedem Verdacht unumgänglich. Blutentnahme, EKG, Blutdruck, Medikamentenanamnese, Familienanamnese, ggf. bei Verdacht auf hirnorganische Störungen auch Überweisung zum Neurologen mit MRT und EEG und bei Frauen ggf. Überweisung zum Gynäkologen zwecks Hormonstatus. Auch ein Testosteronmangel bei Männern kann Antriebslosigkeit hervorrufen. Ich hatte mal einen neuen Patienten, der sich immer schlapp und antriebslos fühlte. Bei ihm lag ein manifester, also stark ausgeprägter Diabetes vor.
Zwecks Diagnostik wird die Depression in Haupt- und Nebendiagnosen eingeteilt und je nachdem, wieviele Symptome der Patient zeigt, kann man eine Depression in leicht, mittel oder schwer einteilen. Eine mögliche Suizidalität muss ebenfalls angesprochen und ernst genommen werden und erfahrungsgemäß sind Patienten darüber erleichtert.
Die Therapie und die Medikamente kann ich hier leider nicht aufdröseln, das würde zu weit führen. Als Hausärztin kann ich aber „da sein“, Halt geben, manchmal mit der medikamentösen Therapie beginnen und versuchen, den Weg für eine Therapie zu ebnen. Wenn ich auch nicht zwanzig Therapeuten anrufen kann, denn die Eigeninitiative der Patienten ist dennoch wichtig. Eine große Hürde für die Erkrankten, aber auch in wichtiger Schritt in Richtung Besserung, denn es zeigt auch: „Ich kann das, ich habe es geschafft.“ Kleine Aufgaben jeden Tag, Schritt für Schritt.
Antidepressiva sind gut und nützlich, wenn sie parallel zu einer psychotherapeutischen Behandlung eingesetzt werden. Die Rolle der Ernährung wird aktuell noch erforscht, Sport hilft nachweislich, das Befinden zu verbessern. Oft spielt er aber erst wieder eine Rolle, wenn die bleierne Antriebslosigkeit überwunden wurde. Auch erholsamer Schlaf wirkt antidepressiv und Schlafdiagnostik und schlafanstoßende Medikamente können hilfreich sein. Ganz große Vorsicht ist bei Benzodiazepinen und den sogenannten Z-Drugs (Zopiclon, Zolpidem) geboten, da sie schnell abhängig machen. Benzodiazepine können Panikattacken durchbrechen, sind aber keine Dauertherapie.
Antidepressiva machen übrigens nicht abhängig! Man muss sie allerdings nach und nach ausschleichen, wenn man sie nicht mehr nehmen möchte, weil sie sonst Rückfälle verursachen können. Manche Blutdruckmedikamente muss man ja auch ausschleichen und niemand hat Angst vor ihnen. Bei Bluthochdruck betreibt man Lebensstiländerung und nimmt seine Medikamente, wenn nötig. Bei Depressionen kann es auch angebracht sein. Die Angst vor der Tabletten kann man zur Sprache bringen und (wie bei Blutdruckmitteln auch, da passt auch oft nicht gleich das erste Medikament) nach und nach anpassen.
Das ist der zweite Teil, in dem es um drei Blicke auf die Depression geht. Den ersten Teil findet ihr hier. Im nächsten und letzten Teil geht es um die Sicht der Angehörigen.
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