Teil 1 | Wie eine Wackelpudding-Wand zwischen der Tür und drinnen. So kann sich der Schritt aus dem Haus anfühlen, wenn man depressiv ist. Als Arzt schadet es nie, öfter mal die Perspektive zu wechseln.
„Schreib doch mal was über Depression!“ Das haben sich einige meiner Leser gewünscht. Zur Zeit ist die Krankheit in den Medien präsent, weil sie laut jüngstem DAK-Psychoreport die häufigste Diagnose ist, wenn es um Krankheitstage aufgrund psychischer Probleme geht. So hoch wie im Vorjahr war die Zahl an Fehltagen von Arbeitnehmern wegen Depressionen, Angst- oder Belastungsstörungen noch nie.
Ich nahm mir also vor, einen gut verständlichen Artikel über Depression zu schreiben und scheitere eigentlich schon an der Themensetzung. Denn man kann nicht einfach einen Artikel darüber schreiben, der das gesamte Gebiet abdeckt. Und dann das Ganze auch noch mit einer Prise Humor, wie ich es gerne habe? Dieser Beitrag soll keine medizinische Abhandlung des Themas sein, sondern ein persönlicher Blick auf die Depression – mal drei. Aber dazu komme ich gleich.
Das Internet ist voll von guten und seriösen Informationen über diese Erkrankung. Von Fachkliniken, Ärzten oder Bloggerkollegen. Und mit den psychiatrischen Fachärzten kann ich inhaltlich natürlich nicht mithalten. Psychiater sprechen lieber von der Depression-Spektrum-Störung, weil die Erkrankung so viele Gesichter hat. Ich belasse es der Einfachheit halber in diesem Artikel bei dem Wort Depression.
Aufgrund der Komplexität kann ich nicht das gesamte Thema abdecken. Auch die Epidemiologie und Statistik werde ich außen vor lassen. Ich kann aber einen neuen Ansatz versuchen. Einen persönlichen. Und einen dreifachen Ansatz: einmal aus Sicht der Patienten, dann aus Sicht des Arztes (sprich: mir) und aus Sicht der Angehörigen. Nämlich: Wie geht es den Patienten? Wie fühlt es sich wohl für Menschen mit Depression an, wenn sie in eine überfüllte Praxis kommen und sich einem nahezu fremden Menschen öffnen wollen? Und das, nachdem sie wochen- bis monatelang mit sich haderten und überlegten und kämpften, aus dem Haus zu gehen?
Was nehme ich als Hausärztin wahr? Was geht in mir vor und wie kann ich helfen? Kann ich überhaupt helfen? Und wie fühlen sich die Angehörigen? Sie kommen oft zu kurz bei der Sache. Was können sie tun? Darf man als Angehöriger die ganze Sache mächtig scheiße finden?
Ein Geständnis vorab: Meine Familie ist geprägt von dieser Erkrankung. Mehr bleibt mein Geheimnis, aber ich habe gesehen, was diese Krankheit macht. Ich habe gesehen, dass manche sie überwunden haben und manche nicht. Ich habe gesehen, wie Depression von einem Menschen nur eine Hülle lässt und es bei Weitem nicht so ist, dass die Erkrankten eben einfach ein bisschen mehr traurig sind. Und ich hatte selbst anstrengende Zeiten, in denen ich Hilfe von außen suchte und die Reaktion war: „Du musst halt mal wieder Urlaub machen.“ Joa. Hawaii gerne. Morgens mit der Sonne aufstehen und um 5:30 Uhr den ersten Kaffee am Strand trinken und dabei den Fischern zusehen. Ich gerate ins Schwärmen. Gibt es das auf Kassenrezept?
Vorab: Depression ist eine Krankheit. Ich schreibe es nochmal laut, damit es jeder hört:
DEPRESSION IST EINE KRANKHEIT. NIEMAND KANN ETWAS DAFÜR.
Ich hoffe, es war laut genug. Eigentlich ist der Artikel jetzt fertig, denn das Wichtigste habe ich damit gesagt.
Schon alleine, dass man es so nachdrücklich sagen muss, ist eigentlich schade. Denn wenn jemand die Diagnose einer somatischen Erkrankung oder einer Verletzung gestellt bekommt, erfährt er normalerweise Unterstützung und Hilfsangebote. „Oh, shit, Bein gebrochen? Komm, ich helfe dir. Was kann ich tun?“
Nicht so der Depressive. Von „Also, wir sind ja alle mal schlecht drauf“, bis hin zu „Reiß dich mal zusammen“ oder einem „Na na …“ à la Sheldon aus Big Bang Theory bekommen die Patienten wundersame Dinge zu hören. Menschen wenden sich ab, Angehörige sind überfordert, Arbeitgeber genervt.
Wie äußert sich eine Depression? Nun, das ist aus Sicht der Patienten oft nicht leicht zu erkennen. Die Hauptsymptome „schlechte Stimmung“ und „Antriebslosigkeit“ sind manchmal versteckt und zeigen sich eher in Wut und Aggressivität oder in körperlichen Symptomen. Die Depression hat viele Gesichter und Männer sind anders depressiv als Frauen. Manche geraten permanent in Streit mit ihren Angehörigen oder dem Arbeitgeber und gehen zum Arzt, weil sie sich so nicht kennen.
Depression kommt selten mit dem Hammerschlag, sondern eher schleichend. Jeder ist tatsächlich mal schlecht gelaunt. Dieser Drang nach permanentem Glück heutzutage ist unnatürlich. Glück als Leistungsgedanke. Denn würden wir täglich nur Glück erfahren, käme es uns wieder normal vor. Gerade sehr wohlhabende Menschen, die „alles“ haben, sind oft nicht glücklich im Leben.
Wenn man aber über den Zeitraum von zwei Wochen nicht mehr aus der schlechten Phase herauskommt, muss man sich selbst ein wenig beobachten. Zu einer Depression gehört neben der veränderten Stimmung eine oft lähmende Antriebslosigkeit. Die Patienten schaffen es manchmal nicht, das Bett zu verlassen. Sie wollen ja, natürlich wollen sie das! Aber es geht nicht. Die Zeit vergeht einfach und sie liegen immer noch im Bett. Und wenn sie es geschafft haben, sich zu duschen und anzuziehen, sind sie so erschöpft, dass sie vom Sofa nicht mehr aufstehen können.
Der Schritt zur Tür hinaus fühlt sich an, als wäre zwischen ihnen und der Tür eine wabbelnde Wand aus Wackelpudding, die nicht zu durchdringen ist. Oder ein Krater mit Lava. Oder als wäre die Tür zwar vor ihnen, aber wenn sie sich nähern, rückt sie wieder ein Stückchen weg. Und wieder ein Stückchen. Und wieder. Den Menschen erscheint das Leben leer. Wozu das alles? Was soll da noch kommen? Eine Sinnlosigkeit erfasst sie und mit ihr das Gefühl, dass nichts Gutes mehr kommen wird. Und dann manchmal auch der Wunsch, dass das alles einfach aufhört, weil die Erschöpfung zu groß ist.
Manche Menschen möchten dem ein Ende setzen, aber die Antriebslosigkeit hindert sie. Wenn sie dann einfach mal locker flockig Antidepressiva erhalten, kann es sein, dass die Antriebslosigkeit ein Ende hat und sie es damit „endlich“ schaffen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Schwierige Kiste. Medikamente sollten daher unbedingt in Verbindung mit Psychotherapie stehen, damit es nicht zu solchen Situationen kommt. Wer seines Lebens überdrüssig ist, braucht dringend spezialisierte Hilfe (Anlaufstellen findet ihr hier ganz unten).
Es gibt aber auch Tage, an denen Erkrankte lachen können. Auch Humor ist vorhanden und Treffen mit Freunden, wenn man sich mal dazu überwunden hat, können als aufbauend und ablenkend empfunden werden. Lachen funktioniert. Bei manchem Depressiven funktioniert auch das Arbeiten, wenn auch unter hohem Kraftaufwand. Das Ganze nennt man High-Functioning Depression und ist dennoch eine Art der Depression. Die Personen schaffen es, den Alltag aufrecht zu erhalten, zu arbeiten, zu funktionieren, die Kinder zu versorgen und der Außenwelt ein perfektes Leben vorzugaukeln. Und manchmal ist die Arbeit auch der einzige Halt im Leben, das Strukturgebende.
Manche Depressive wandeln ihre Energie in kreative Werke um. Schriftsteller, Künstler, die Arbeit als Manager eines Konzerns, Marathonläufer. Es gibt diverse Arten, der Erkrankung Ausdruck zu verleihen, aber natürlich ist nicht jeder Künstler oder Marathonläufer depressiv.
Es können Schlafstörungen auftreten, Essstörungen, psychosomatische Beschwerden wie Kopfschmerzen, Herzrhythmusstörungen oder Magenschmerzen.
Wir halten fest: Der Patient bemerkt, dass etwas nicht stimmt, aber macht erstmal weiter, wie bisher. Es wird schon aufhören. Aber es hört nicht auf. Die Kopfschmerzen werden schlimmer, die Schlaflosigkeit auch. Magenschmerzen gesellen sich dazu. Und Ängste, dass man an einer schlimmen Erkrankung leidet. Die Arbeit wird immer belastender, der Partner ist zunehmend genervt oder ratlos. Er oder sie geht zum Arzt und der sagt: „Wie wäre es denn mal mit Urlaub?“
Großartige Hilfe. Nicht. Jemand mit einer Depression erkennt manchmal selbst nicht, dass es eine ist. Er merkt, dass es ihm schlecht geht und muss dann mit dem genervten und/oder überforderten Umfeld klarkommen. Nicht so einfach.
Das war der erste Blick auf die Depression – der des Betroffenen. Was können wir Ärzte tun und wie erlebt ihr eine Depression bei euren Patienten und bei deren Angehörigen? Darum geht es in Teil zwei und drei der Serie.
Bildquelle: Mario Azzi, Unsplash