Ärzte sind von ihnen fasziniert: Den Bakteriophagen. Sie kommen in anderen Ländern zum Einsatz und sind eine ernstzunehmende Alternative zu Antibiotika. Warum nicht auch bei uns?
Eine 17-jährige Mukoviszidose-Patientin kämpft gegen Infektionen durch einen multiresistenten Stamm des Bakteriums Mycobacterium abscessus. Eine Therapie mit Bakteriophagen rettet der jungen Frau das Leben. Es ist der Fall Carnell-Holdaway, über den die DocCheck News im Mai berichteten. Sehr viele User haben den Beitrag gelesen. Das zeigt, dass Phagen ein Faszinosum in der Medizin sind und dass es viele Ärzte interessiert.
Die speziellen Viren werden in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion seit circa hundert Jahren eingesetzt, wenn Antibiotika versagen. In Europa sind Phagen allerdings noch nicht zur Therapie zugelassen. Wie groß ist das Potenzial dieser Art der Behandlung? Verpassen wir eine Chance?
Viele Vorteile gegenüber Antibiotika
Auch hierzulande wird auf diesem Gebiet geforscht: In Deutschland befasst sich das Leibniz-Institut DSMZ − Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH in Braunschweig mit der Erforschung von Bakteriophagen für therapeutische Anwendungszwecke. Dort können Labore rund 360 verschiedene Phagen aus einem Phagen-Katalog zu Forschungszwecken bestellen. Für eine direkte Anwendung dürfen die Viren jedoch nicht genutzt werden.
Dr. Christine Rohde arbeitet als Mikrobiologin bei der DSMZ und ist Expertin für Bakteriophagen. Den größten Vorteil der Viren sieht die Mikrobiologin darin, dass sie sich deutlich gezielter einsetzen lassen als Antibiotika. Denn Phagen sind spezifisch, jeder Phage passt nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip auf eine mehr oder weniger große Zahl verschiedener Bakterienstämme innerhalb einer Bakterienart.
Ein großer Pluspunkt gegenüber Antibiotika ist, dass die wichtige mikrobielle Vielfalt durch eine Phagen-Anwendung nicht ungünstig beeinflusst wird. Und eine weitere Fähigkeit macht die „Bakterien-Killer“ für die Therapie so interessant: Sie sind selbstregulierend. Am Infektionsort vermehren sie sich von selbst (self-dosing). Sobald der Wirt verschwindet, zerfallen die Phagen in ihre Bestandteile (self-limiting). Nebenwirkungen von Phagen seien zudem bisher so gut wie keine bekannt, erklärt Rohde.
Zwar können Bakterien wie bei Antibiotika-Resistenzen auch Resistenzen gegen Phagen entwickeln. Das sei aber eigentlich kein Problem, sondern ein natürlicher Vorgang, so Rohde. In jeder Bakterienpopulation gebe es einzelne Zellen, die nicht auf den Phagen ansprechen. Um trotz möglicher Resistenzen Therapieerfolge zu erzielen, sollten sogenannte Phagen-Cocktails genutzt werden. Diese bestehen aus einem Mix aus verschiedenen, sich ergänzenden Phagen, das reduziert die bakterielle Resistenz. Es ist aber auch ein beschriebenes Phänomen, dass phagenresistente Varianten in einer Bakterienpopulation im Wachstum geschwächt oder sogar wieder sensibel für Antibiotika werden. Das bedeutet, eine Ausprägung von Phagenresistenz könnte auf Kosten der bakteriellen Fitness gehen.
Warum den Phagen die Zulassung fehlt
In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion hat sich die hervorragende Wirkung der Phagen-Therapie schon vielfach gezeigt. Beispielfälle tauchen immer wieder in den Medien auf, wie zum Beispiel der geglückte Phagen-Einsatz in Georgien bei einem deutschen Patienten mit Wundinfektion im Bauch (DocCheck berichtete). In Heidelberg wollte man dem Patienten bereits Muskelfleisch entnehmen. Inga Georgadze sagte damals: „Wenn Sie tun, was ich sage, wird es Ihnen bald besser gehen. Als wir ihn nach zwei Wochen nach Hause schickten, sind unsere deutschen Kollegen fast vom Glauben abgefallen.“ Inga Georgadze ist die Institutsleiterin des Georgi-Eliava-Instituts für Bakteriophagen, Mikrobiologie und Virologie in Tiflis, Georgien.
Allerdings handelt es sich bei solchen Geschichten meist um Einzelfälle, klinische Studien fehlten dort bisher.
Man könne in Deutschland zwar von der Expertise dieser Länder profitieren, sagt Rohde. Doch die Qualitätskriterien liegen zu weit auseinander. Das deutsche Arzneimittelgesetz setzt hohe Maßstäbe an Wirkstoffe – und das sei gut so. Phagen seien nicht mit geläufigen Arzneimitteln vergleichbar, daher greifen auch andere Kriterien bei der Zulassung.
Statische Drogen bestehen meist aus definierten kleinen Molekülen. Phagen sind dagegen große, anisometrische biologische Einheiten, die Nukleinsäure und Protein enthalten. Rohde erläutert: „Es gilt hier nicht, die Phagen in ein Schema zu zwingen, sondern das Schema an die Besonderheiten der Phagen anzupassen.“
Es braucht vor allem systematische klinische Studien nach westlichem Standard, um mögliche Risiken zu erfassen. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist das Projekt Phage4Cure. Das Leibniz-Institut DSMZ, das Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin (ITEM) sowie die Charité Universitätsmedizin Berlin und die Charité Research Organisation GmbH arbeiten im Projekt zusammen, um Phagen als Arzneimittel zur Therapie von Infektionskrankheiten zu entwickeln. Im Speziellen suchen die Forscher nach Phagen zur Therapie von Pseudomonas aeruginosa, einem sehr häufig multiresistenten Bakterium, das mitunter Lungenentzündungen auslöst. Auch für die chronische Besiedlung der tiefen Atemwege bei Bronchiektase-Patienten ist das Bakterium verantwortlich. Darum geht es im Projekt Phage4Cure. (DocCheck berichtete).
Bis sämtliche offenen Fragen zu den Phagen geklärt sind, braucht es noch Zeit. Rohde ist dennoch optimistisch: „in Deutschland haben wir uns gemeinsam mit der Bundesoberbehörde BfArM, die für die Zulassung von Phagen-Produkten zuständig ist, auf einen gemeinsamen Weg begeben, um den Zulassungsweg zu gestalten.“ Letztlich müsse aber auch die europäische EMA-Ebene über Phagen entscheiden.
Weitere Hürden der Phagen-Therapie
Nicht nur eine Zulassung fehlt bisher, es gibt auch andere Hürden für die Phagen-Therapie. „Das größte Hindernis der Phagen-Therapie in Deutschland ist leider die Gesamtheit des Komplexes der nötigen Infrastruktur. Es fehlt quasi kaskadenartig an umfangreichen Phagen-Banken und an der herstellenden Industrie, welche Phagen-Produkte nach GMP-Qualität vorhält“, erklärt Rohde. Ebenso gibt es keine klinischen Zentren, an denen die Phagen-Therapie von erfahrenen Ärzten angeboten wird.
Dass die Pharmaindustrie bisher wenig Interesse an Phagen zeigt, liegt mitunter an der Spezifität von Phagen. Diese Eigenheit der Viren ist einerseits ein Vorteil, andererseits ist die breite Anwendung dadurch nicht ganz einfach. Bevor eine solche Therapie machbar ist, müssten erst passende, aufgereinigte Phagen mit definierten Eigenschaften verfügbar sein. Und das ist nicht ganz billig. Doch Christine Rohde ist auch in diesem Punkt vorsichtig optimistisch: Phagen könnten durchaus für die Pharmaindustrie interessant sein. Es komme auf das Therapie-Target, die beteiligte Bakterienart, Darreichungsform und das therapeutische Ziel an. Auch eine Patentierung sei im Zusammenhang mit einer bestimmten Anwendung denkbar.
Sind Phagen auch jetzt schon einsetzbar?
Das Projekt PhagoFlow wird vom Innovationsfond des Gemeinsamen Bundesausschusses finanziert und startete im April 2019. Die Partner des Projekts sind das Leibniz-Institut DSMZ, Fraunhofer ITEM und das Bundeswehrkrankenhaus Berlin mit der Krankenhausapotheke, die die Phagenpräparate Patienten-individuell mischen. Ziel des Projekts ist es, zu zeigen, dass Phagen sich auch schon unter bestehenden Bedingungen einsetzen lassen. Auf der Website von PhagoFlow heißt es: „Es könnte gezeigt werden, dass eine individuelle, auf die Patientensituation angepasste Phagen-Therapie bei adäquater Indikation (Multiresistenz) tatsächlich bereits heute, auch in Deutschland, in den stationären Versorgungsalltag implementiert werden könnte (personalisierte Infektbehandlung).“
Konkret heißt das, dass die DSMZ für ausgewählte Bakterienarten der WHO-Liste besonders effiziente Phagen auswählt. Die Phagen kommen zunächst zur Aufskalierung, Produktion und Reinigung nach GMP (GMP = Good Manufacturing Practices) zum Fraunhofer ITEM. Im nächsten Schritt werden die Phagen in Portionen eingeteilt und für die magistrale Mischung und Anwendung nach ärztlichem Rezept bereitgehalten. So liegen die Phagen bereits gereinigt vor und man kann sie schneller zur Therapie einsetzen. Die Präparate sind absolut zuverlässig, da sich jedes Detail zurückverfolgen lässt.
Dies unterscheidet sich von der Vorgehensweise in Belgien. Dort übernimmt eine Behörde für jedes einzelne Phagenpräparat das nötige Qualitätssiegel. Die Phagen müssen so zwar nicht nach GMP hergestellt werden. Sie liegen aber auch nicht kurzfristig aufgereinigt vor. Vor einer Anwendung müssen die Phagen gemäß der belgischen Monographie aufgereinigt werden (General Monograph – Phage Active Pharmaceutical Ingredients).
Welche Schritte für den Einsatz von Phagen nötig sind? „Es ist sozusagen ein genetischer Pass erstrebenswert, eine Checkliste, welche einen Phagen zum therapietauglichen Phagen macht – oder eben nicht“, sagt Rohde. Dieser Pass dient dazu, bestimmte unerwünschte genetisch determinierte Fähigkeiten anhand einer Genomanalyse auszuschließen. Ob ein Phage im Einzelfall passt, klärt sich im Phagogramm. Dieses funktioniert ähnlich wie ein Antibiogramm und liefert das Ergebnis über Nacht. Zeitgleich könnte man herausfinden, welches Antibiotikum und welche Phagen konkret passen, um die antibakterielle Therapie zielgerichtet zu gestalten. Denn Phagen und Antibiotika wirken synergistisch und können zusammen verabreicht werden.
Bei der Behandlung von Carnell-Holdaway verwendete der Arzt einen Cocktail aus drei Phagen-Arten, zwei davon leicht gentechnisch verändert. „Gentechnik bedeutet hier maßgeschneiderte, adaptierte beziehungsweise besser passende Phagen für eine individuelle Therapie und das ist grundsätzlich ein begrüßenswertes Ziel“, sagt Rohde. Man habe den Phagen lediglich ein Gen „ausgeknockt“, was keinen großen Eingriff in das Erbgut der Phagen darstellt. In einem solchen Vorgehen sieht Rohde durchaus zusätzlich zu natürlichen Phagen Zukunft: Gentechnische Veränderungen an Phagen könnten zielgerichtet durchgeführt und von einer intensiven Risikoabschätzung begleitet werden. Die Gentechnik würde allerdings einige Punkte im Zulassungsweg noch verkomplizieren, daher geht es jetzt im ersten Schritt um die Zulassung „natürlicher“ Phagen.
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