Die Phagentherapie wird in Georgien schon lange zur Behandlung bakterieller Infektionen eingesetzt. Im Kampf gegen Antibiotika-Resistenzen wird nun auch hierzulande das Potenzial der Viren erkannt. Problematisch ist die mangelhafte Herstellungs- und Behandlungspraxis.
„Vor kurzem hatten wir einen Mann aus Deutschland hier“, sagte Inga Georgadze gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Er kam mit einer üblen Wundinfektion im Bauch, in Heidelberg wollte man ihm bereits Muskelfleisch entnehmen. Ich sagte ihm: ‚Wenn Sie tun, was ich sage, wird es Ihnen bald besser gehen.‘ Als wir ihn nach zwei Wochen nach Hause schickten, sind unsere deutschen Kollegen fast vom Glauben abgefallen.“
Inga Georgadze ist Institutsleiterin des Georgi-Eliava-Instituts für Bakteriophagen, Mikrobiologie und Virologie in Tiflis, Georgien. Die Phagentherapie, mit der der Mann in dem oben beschriebenen Fall behandelt wurde, hat in Georgien eine fast 100-jährige Tradition. Phagen, eigentlich Bakteriophagen, gehören biologisch betrachtet zu den Viren, denn sie bestehen nur aus ihrer eignen Erbinformation, einer Hülle aus Proteinen und einem Schwanz. Sie greifen ausschließlich Bakterien an und zerstören sie, indem sie die Bakterienzelle zur eigenen Vermehrung nutzen. Phagen sind so klein, dass sie nur im Elektronenmikroskop sichtbar sind.
Das virale Himmelfahrtskommando geht ganz gezielt vor: Anders als ein unspezifisch wirkendes Antibiotikum tötet ein Bakteriophage nur eine ganz bestimmte Bakterienart oder sogar nur einen bestimmten Stamm innerhalb einer Bakterienart. Die restliche bakterielle Besiedlung des Menschen bleibt bei einer Phagentherapie unbehelligt. Bakterieophagen wirken, indem sie die Bakterienzellen zum Platzen bringen. Das geschieht folgendermaßen: Der Phage dockt mit seinem Schwanz an eine Bakterienzelle mit passender Oberflächenstruktur an, spritzt seine DNA ins Innere der Bakterienzelle und vermehrt sich dort. Die zahlreichen neuen Bakteriophagen bringen die Bakterienzelle schließlich zum Platzen. Sie schwärmen aus und suchen sich ein neues, passendes Bakterien-Opfer. https://youtu.be/qTqJITdpMko Dieser Vorgang wiederholt sich so lange, bis keine passenden Bakterienzellen mehr vorhanden sind. In der Natur und auch im gesunden Menschen laufen solche Prozesse ständig und nahezu allgegenwärtig ab. Bakteriophagen findet man überall, wo es auch Bakterien gibt: In der Erde, in Pfützen, in den Tiefen der Ozeane und im menschlichen Körper wie z.B. auf der Haut und im Darm.
Die besonders hohe Spezifität der Bakteriophagen ist ihr größter Vorteil. Doch für den Hersteller ein großer Nachteil. Denn für jedes pathogene Bakterium muss zunächst ein passender Phage gefunden werden – ein mühseliges und wenig lukratives Geschäft, das in westlichen Ländern nach dem Aufkommen von Antibiotika nahezu gänzlich in Vergessenheit geraten ist. Ob ein Phage gegen eine bestimmte Bakterienart oder einen Stamm innerhalb dieser Art wirkt, weiß man mit Sicherheit erst, nachdem man es getestet hat. Ändert sich die Oberflächenstruktur eines Bakterienstammes, was natürlicherweise immer wieder vorkommt, muss der passende Phagencocktail erneut zusammengestellt werden.
Während in Deutschland nur einige wenige Ärzte in Ausnahmefällen mit Phagen therapieren, ist das größte georgische Zentrum für Phagen-Produktion in der Hauptstadt Tiflis sehr erfolgreich. Im Eliava-Institut können Patienten ihre pathogenen Bakterien identifizieren lassen und sich kurz darauf einen maßgenschneiderten Phagenmix für zu Hause abholen. Die Phagencocktails gehen umgerechnet für ein paar Euro, jedoch ohne strenge Qualitätsprüfungen über die Ladentheke, entsprechen also nicht westlichen Standards. Bakteriophagen unter dem Elektronenmikroskop. © Mostafa Fatehi Die Geschichte des Phageninstituts in Tiflis begann, als der Mikrobiologe Georgi Eliava im Jahr 1921 Bakteriophagen aus dem Labor des Biologen Félix d’Hérelle in Paris mit nach Tiflis brachte. D’Hérelle hatte dort Kinder erfolgreich gegen einen schweren Darminfekt behandelt. Schon 20 Jahre vor der Anwendung von Penicillin hatten die Georgier damit eine wirksame Waffe gegen bakterielle Infektionen in der Hand. Sie zeigte sich als nebenwirkungsfrei und günstig in der Herstellung – eine perfekte Volksmedizin für die gesamte ehemalige Sowjetunion. Der Westen hingegen konzentrierte sich in den kommenden Jahrzehnten ausschließlich auf die Entwicklung neuer Antibiotika. Dies wird immer wieder in Frage gestellt, denn die Natur bietet ein schier unerschöpfliches Repertoire an Phagen, die verschiedene pathogene Erreger gezielt abtöten können.
Eine Behandlung mit Phagen ist in Deutschland eine rechtliche Grauzone, in der nur wenige Ärzte unter dem Begriff „individueller Heilversuch“ agieren. Eine Therapie mit Phagen oder anderen nicht zugelassenen Mitteln ist hierzulande nur dann erlaubt, wenn alle herkömmlichen Therapien erfolglos waren. „Wären uns rechtlich nicht die Hände gebunden“, sagte Christine Rohde gegenüber Focus Online, „könnte die Medizin zum Beispiel vielen Menschen mit einem diabetischen Fuß die Amputation ersparen.“ Christine Rohde ist Phagenforscherin und Mikrobiologin am Leibniz-Institut DSMZ, der Deutschen Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen in Braunschweig. Dort hat Rohde bereits mehr als 500 verschiedene Phagenarten gesammelt und katalogisiert; viele von ihnen aus dem Wasser der städtischen Kläranlage.
Phagen könnten in Deutschland eine sinnvolle Ergänzung zu Antibiotika sein. Bei chronischen Erkrankungen könnte der Dauereinsatz von Antibiotika mit seinen zahlreichen Nebenwirkungen vermieden werden. Auch bei antibiotikaresistenten Bakterien ist eine Phagentherapie denkbar. Um das Übel an der Wurzel zu packen und bereits die Entstehung von resistenten Bakterien zu verhindern, müsste der Einsatz von Antibiotika im Tiermastbereich jährlich um 724 Tonnen reduziert werden (Stand Deutschland 2016). Phagen könnten also auch bei der Nutztierhaltung zum Einsatz kommen. Erste Versuche an Hühnern zeigten bereits gute Erfolge. Ob ein großflächiger Einsatz technisch möglich und ökonomisch sinnvoll ist, werden weitere Versuche erst noch zeigen müssen.
Die Frage, warum Phagen nicht längst Einzug in die Veterinär- und Humanmedizin in Deutschland erhalten haben, beantwortete der Pneumologe und Phagenforscher Martin Witzenrath, Oberarzt an der Berliner Charité, gegenüber N24 folgendermaßen: „Ohne ausreichend viele klinische Studien ist ihre Anwendung fahrlässig. Sicher, alles weist darauf hin, dass Phagen eine sehr wirkungsvolle Medizin ohne wirkliche Nebenwirkungen sind, aber das haben wir auch schon bei anderen Medikamenten geglaubt und wurden eines Besseren belehrt.“ Bisher ist die Phagentherapie umstritten – aus gutem Grund. Bisher agieren Hersteller und Anwender „nicht besonders wissenschaftlich“. Eine gute Behandlungspraxis (GCP, good clinical practice) und eine gut geregelte Herstellungspraxis (GMP, good manufacturing practice) seien meist nicht gegeben, so Witzenrath. Phage löst eine Bakterienkultur (Bacillus anthracis) auf. Credit: CDC/ Courtesy of Larry Stauffer, Oregon State Public Health Laboratory
Doch genau diese beiden Aspekte sind ausschlaggebend für eine sichere Behandlung beim Menschen. Ein besteht nämlich durchaus auch ein Risiko bei der Phagentherapie, wie eine Analyse von Hähnchenfleischproben am Institut für Fleischhygiene der Tierärztlichen Hochschule in Wien zeigte: Die Phagen, die die Forscher dort im Fleisch der Tiere fanden, waren in der Lage, Resistenzen von E. coli zu übertragen. Die Phagen bauten ein Resistenzgen eines Bakteriums in ihr Erbgut mit ein, das neu befallene Bakterien in ihr eigenes Erbgut integrieren konnten. Eine verheerende Entwicklung, über die super-antibiotikaresistente Bakterien massenhaft vermehrt werden könnten. Vermeiden ließe sich diese Entwicklung durch eine GMP, in der vor der Anwendung der Phagen durch Untersuchungen ausgeschlossen wird, dass die Phagen Resistenzen in ihrem Erbgut tragen. Forderungen nach GMP und GCP haben also durchaus ihre Berechtigung, auch wenn sie in diesem Zusammenhang zunächst übertrieben wirken. Witzenrath wird demnächst eine doppelblinde, placebokontrollierte Studie ins Leben rufen, die die Wirksamkeit und die Unbedenklichkeit bestimmter Phagen belegen soll. https://youtu.be/p2ngpKBPfF8
Auch in Polen (Breslau, Krakau oder Tschenstochau) kann man sich mit Phagen therapieren lassen. Wie in Tiflis ist ein persönliches Erscheinen notwendig, da der Phagenversand beim Zoll zu Schwierigkeiten führen kann. In Polen werden Infektionen mit Acinetobacter, Burkholderia, Citrobacter, Enterobacter, Enterococcus, Escherichia, Klebsiella, Morganella, Proteus, Pseudomonas, Shigella, Salmonella, Serratia, Staphylococcus, und/oder Stenotrophomonas behandelt. Voraussetzung: Das pathogene Bakterium muss bekannt und der Patient über sechs Jahre alt sein. Die flüssigen Phagenmixturen werden dort oral, lokal oder rektal verabreicht. Die Kosten belaufen sich auf ca. 350 bis 660 Euro für einen Therapiezyklus.
Was können wir von den östlichen Ländern lernen? Im Zeitalter der zunehmenden bakteriellen Resistenzen werden Antibiotika nicht mehr gegen alle Erreger wirken. Glaubt man Prognosen der WHO, werden im Jahr 2050 zehn Millionen Menschen pro Jahr an resistenten Bakterien sterben. Weil es noch keine aussagekräftigen Studien gibt, werden Phagen den Antibiotika, zumindest in den nächsten Jahren, nicht den Rang streitig machen. Als Ass im Ärmel gegen resistente Bakterien sollten sie jedoch auch hierzulande Beachtung finden.