Kleine Kliniken kann man getrost schließen, sagen Experten. Doch wie ist die Versorgung dort überhaupt? Ich habe eine Landklinik besucht. Mein erkenntnisreiches Treffen mit einem Neurologen in Eberswalde.
Ich habe der Redaktion vorgeschlagen, einmal über einen neurologischen Chefarzt oder eine Chefärztin in der Provinz zu berichten. Was ist an dieser Position einzigartig, wo liegen die besonderen Herausforderungen? Die Fragestellung erscheint mir interessant. Auch deshalb, weil schon seit Längerem intensiv darüber diskutiert wird, wie mit Versorgungsdifferenzen zwischen Stadt und Land umzugehen ist. Das Problem der Hausarztnachfolge auf dem Land ist dabei ein besonders pointiertes.
Ich besuchte also vor einigen Tagen einen Neurologen in Eberswalde, schrieb meinen Text und einen Tag später ging zufällig eine Meldung durch die Presse, die mich aufhorchen ließ: „Experten fordern, jede zweite Klinik zu schließen“.
Die Kernaussage der Studie ist, dass von den bestehenden, etwa 1.400 Kliniken in Deutschland etwa 800 schließen müssten, weil sie nicht das notwendige Know-how vorhielten und man nur durch eine Fokussierung auf Häuser der Exzellenz die Krankenversorgung sichern könne. Zu den lebhaft vorgetragenen und vielen sehr guten Kommentaren, die ich auf dem Portal zu diesem Artikel gelesen habe (DocCheck berichtete), habe ich nur wenig hinzuzufügen.
Mein Ziel war es eher, ganz schlicht – hier am Beispiel eines Chefarztes in der Provinz – aufzuzeigen, dass Ärzte sowie andere Menschen in der Krankenversorgung in Deutschland einen hervorragenden Einsatz zeigen und dieses anschaulich zu belegen. Claus Kleber hat Herrn Prof. Thomas Mansky, der die von Bertelsmann gesponserte Studie zu verantworten hat, im Heute Journal devot interviewt. Der Herr Professor hat mich inhaltlich nicht überzeugen können. Das war ein wenig wie bei einem Doktoranden, der nicht in der Lage ist, die Kernaussage seiner Dissertation nachvollziehbar zu erläutern und wo man deshalb grundsätzliche Zweifel an der Qualität der Arbeit bekommt. Insbesondere seine Begründung, dass die bestehenden Probleme bei der Stellenbesetzung durch eine Konzentration im Gesundheitswesen gelöst würden, war absonderlich. Angebot und Nachfrage, z.B. in der Pflege – und das sollte der Herr Professor wissen, der für sich in Anspruch nimmt Ökonom und Arzt zugleich zu sein – lassen sich sehr einfach durch eine adäquate Entlohnung lösen.
Wir führen aktuell eine intensive gesellschaftliche Debatte, auf welche Weise wir z.B. in der industrialisierten Landwirtschaft eine Kursänderung bewirken können. Nicht, weil wir etwa wie die Amish People singend durch die Gegend hüpfen wollen, sondern weil diese Art des Wirtschaftens besorgniserregende Kollateralschäden mit sich bringt. Die Medizin mit ihrem ungebrochenen Hang zur rein ökonomisch determinierten High-Tech-Legebatterie scheint noch nicht verstanden zu haben, dass eine solche Entwicklung mit sehr problematischen Nebenwirkungen einhergeht. Das hat nichts damit zu tun, dass man die Versorgungsstrukturen konzeptionell weiterentwickeln kann und muss.
Nun will ich aber trotzdem von meinem ursprünglichen Vorhaben erzählen. Zunächst überlegte ich, wer mein „Neurologe aus der Provinz“ sein könnte. Ich erinnerte mich, dass ich vor mehreren Jahren in Eberswalde in der neurologischen Abteilung, die von Dr. Albert Grüger geleitet wird, einen Vortrag über Demenz gehalten habe. Eberswalde ist die Kreisstadt des Landkreises Barnim, hat knapp 40 Tausend Einwohner und liegt ungefähr 50 Kilometer nordöstlich von Berlin. Dr. Grüger ist sofort zu einem Interview bereit. Wir verabreden uns neben der Stroke-Unit, die im Werner-Forßmann-Krankenhaus angesiedelt ist. Dr. Grüger macht dort an diesem Freitagnachmittag seinen Antrittsbesuch beim neuen Leiter der Neurochirurgie.
In Eberswalde gibt es außerdem noch das Martin-Gropius-Krankenhaus, das 1865 als Brandenburgische Provinzial-Irrenanstalt in Neustadt-Eberswalde nach Plänen des Architekten Martin Gropius fertiggestellt wurde. Zu dieser Zeit ein wegweisender Krankenhausbau mit verbundenen Blöcken. Das sogenannte Pavillon-System kam wenig später. Durch die Trennung der Einheiten sollte das Infektionsrisiko verringert werden. Sein Großneffe, Walter Gropius, hat 1919 in Weimar das Bauhaus begründet. Das Martin-Gropius-Krankenhaus ist ein Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie.
Im Foyer des Werner-Forßmann-Krankenhauses steht die Büste des Namensgebers; dahinter befindet sich eine großformatige Reproduktion des berühmten Röntgenbildes von 1929, als Werner Forßmann sich hier in einem Selbstversuch einen Katheter über die rechte Vena cephalica bis in den rechten Vorhof einführte. 1956 erhielt er, gemeinsam mit André Frédéric Cournand und Dickinson Woodruff Richards, den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.
Die Stroke-Unit ist überregional zertifiziert und hat insgesamt 9 Betten. Seit mehr als 10 Jahren gibt es eine hervorragende Zusammenarbeit mit dem hiesigen, interventionellen Neuroradiologen. Das hat natürlich, wie überall, nochmal einen ganz anderen Stellenwert erhalten, seit die wegweisenden Studien zur Thrombektomie beim akuten Schlaganfall in 2014 veröffentlicht wurden; stellvertretend sei hier die Studie mit dem eingängigen Namen MR CLEAN genannt.
Dr. Grüger betont, dass die medizinische Situation in Eberswalde, bis auf eine fehlende Dermatologie und Pathologie, den Status einer Maximalversorgung hat. Ich entdecke später auf der Homepage der Klinik, dass hier ebenfalls ein interdisziplinäres Zentrum für Vasculäre Malformationen angesiedelt ist, mit internationaler Kooperation. Das heißt: Bei Bedarf reisen Experten aus den USA an und führen spezielle Operationen vor Ort durch.
Wir beschließen, unsere Unterhaltung im Martin-Gropius-Krankenhaus fortzusetzen und fahren circa drei Kilometer durch Eberswalde dorthin. Auf dem Weg erfahre ich unter anderem, dass die forstliche Lehre in Eberswalde eine der längsten Traditionen deutschlandweit hat, gegründet 1830 als höhere Forstlehranstalt und seit 1992 Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde. Regelmäßig würde er hier Lehrende zu Vorträgen einladen, im Sinne eines horizont-erweiternden Curriculums. Beispielhaft und passend für die Neurologie nennt Dr. Grüger einen Experten, der sich aus forstwissenschaftlicher Perspektive mit Zecken beschäftigt.
Das Martin-Gropius-Krankenhaus liegt ganz im Grünen. Auf dem Weg durch die weiten Rasenflächen begegnen wir der psychiatrischen Chefärztin, Frau PD Dr. Uta Donges, die seit 2016 die Psychiatrische Klinik leitet. Die Zusammenarbeit gestalte sich sehr konstruktiv, sagt Dr. Grüger. Ich frage, wie es jemanden, der in Südbaden an der Grenze zur Schweiz aufgewachsen ist, nach Eberswalde verschlagen habe. Eine größere Distanz ist in Deutschland eigentlich kaum möglich. Das sei Zufall, entgegnet er.
Er habe in Süddeutschland und der Schweiz studiert, seine Facharztausbildung in Nordrhein-Westfalen bis zur Oberarzttätigkeit absolviert und sei dann zunächst in Saudi-Arabien und anschließend an der Universität von Leeds tätig gewesen. Er habe zurück nach Deutschland gehen wollen und dabei das Stellenangebot in Eberswalde entdeckt, wo er seit 2006 tätig sei. Er habe zuvor noch nie etwas von Eberswalde gehört, sei aber in den Jahren zu einem Lokalpatrioten geworden, was ich unschwer am Kenntnisreichtum seiner Schilderungen bemerke.
Die erste Zeit sei sehr hart gewesen. Die Klinik hatte 35 Betten mit einem Stellenschlüssel von Chefarzt, einem Oberarzt sowie vier Assistentenstellen. Dann habe der Oberarzt auch noch gekündigt und er sei für ein Jahr der einzige Facharzt in der Klinik gewesen. Langfristig wäre eine solche Situation für ihn persönlich inakzeptabel gewesen und er habe verstanden, warum sein Vorgänger nach zwei Jahren das Handtuch geschmissen habe. Es gäbe aber Kollegen, die dauerhaft eine solche Situation meistern würden, wo man die Basisversorgung mit wenig Aufwand gewährleistet und alle komplexeren Patienten weiterverweist.
Die Klinik mit ihren mittlerweile 56 vollstationären Betten und zehn Fachärzten, darunter sechs mit Oberarztfunktion, verteilt auf das Werner-Forßmann-Krankenhaus sowie das Martin-Gropius-Krankenhaus, werde von der Gesellschaft Leben und Gesundheit (GLG) betrieben, getragen von den Landkreisen Barnim, Uckermark und der Stadt Eberwalde. Auftrag sei die neurologische Versorgung der Bevölkerung. Die Facharztdichte bei den Niedergelassenen sei natürlich deutlich geringer als etwa in Berlin. Dadurch müssten ambulante Aufgaben durch die Klinik mitübernommen werden, z.B. Lumbalpunktionen oder die Erstdiagnostik bei MS oder Parkinson.
Dem habe man dadurch Rechnung getragen, dass man eine Tagesklinik mit 12 Behandlungsplätzen etabliert habe sowie seit 2010 §116b-Ambulanzen für Epilepsie, neuromuskuläre Erkrankungen und Multiple Sklerose. Insgesamt seien sieben neurologische Fachärzte in der Abteilung tätig. Die Zusammenarbeit mit den Niedergelassenen sei sehr konstruktiv. Bei Spezialfragen habe man Ansprechpartner, z.B. an der Charité Prof. Thomas Meyer bei ALS oder die Klinik in Beelitz bei Parkinsonerkrankungen.
Wir stimmen darin überein, dass die Versorgungssituation des Patienten im deutschen Gesundheitssystem insgesamt sehr gut ist. Er selber habe sich in den letzten Jahren der Multiplen Sklerose angenommen und sei hier persönlich circa zehn Stunden wöchentlich in der Ambulanz tätig. Vom Ritual einer Chefarztvisite sei er abgekommen; das könnten die entsprechenden Oberärzt*innen mindestens so gut wie er. Stattdessen vertrete er unter anderem sechs Wochen während der Urlaubsabwesenheit auf der Stroke Unit. Auf diese Weise wisse er, was vor Ort los sei und bleibe auf dem Laufenden.
Insgesamt gebe es in einer Situation wie hier zwei verschiedene Strategien, beide seien gewissermaßen komplementär. Man könnte sich auf die Basisversorgung beschränken und Patienten im Bedarf – z.B. bei neurochirurgisch notwendiger Intervention oder erhöhter neurologischer Komplexität weiterverweisen. Oder man ziele darauf ab, alles abzudecken. Dr. Grüger hat sich für Letzteres entschieden und verweist auf 1.200 behandelte Schlaganfallpatienten pro Jahr, in enger Kooperation mit interventioneller Neuroradiologie sowie Neurochirurgie.
Trotz der breiten und qualitativ hochwertigen Aufstellung der Klinik sei es nicht einfach, freiwerdende Stellen zu besetzen. Gerade mit so einer Nähe wie zu Berlin entscheide sich ein potentieller Kandidat natürlich eher für die Charité als für Eberswalde. Insofern sei die Auswahl geringer; man könne weniger selektieren und es seien immer wieder Personen darunter, bei denen man dann nach einiger Zeit feststellen müsse, dass sie für den Beruf nur bedingt geeignet sind. Und das, obwohl es, wie Grüger meint, in Deutschland eine „Neurologenschwemme“ gebe.
Natürlich sei die Neurologie therapeutisch insgesamt viel aktiver als vor 30 Jahren. Jenseits des objektiven Bedarfes gebe es aber eine Eigendynamik in der Entwicklung der Zahl tätiger Neurologen mit einer Veränderung des Berufsbildes, das dieses unattraktiver mache, da zunehmend Tätigkeiten durchgeführt werden müssen, die im Prinzip auch von nicht-ärztlichem, entsprechend geschultem Personal durchgeführt werden könnten. Als Beispiel nennt Grüger die mehrfach täglich und nächtlich erforderliche Durchführung eines NIH-Stroke Scale (NIHSS) auf der Stroke Unit.
Zu seiner Zeit in England habe es, bezogen auf die Bevölkerungszahl, ungefähr ein Zehntel der in Deutschland tätigen Neurologen gegeben. Kein Neurologe hätte einen Nacht- oder Wochenenddienst absolvieren müssen. Sie seien tagsüber zu unentbehrlich hinsichtlich ihrer Spezialkompetenzen gewesen. In seiner Klinik hätten sie anstelle einer Arztstelle vier Stellen für medizinische Fachangestellte geschaffen, um die ärztlichen Kollegen zu entlasten, durch Telefonate mit den Überweisern, um relevante Information einzuholen, die Sozialanamnese zu erheben und anderes.
Am Schluss kommen wir nochmal auf die persönliche Wohnsituation zu sprechen. Grüger wohnt derzeit am Stadtrand von Berlin, seine Frau arbeitet als Nephrologin an der Charité. Da hätten sie sich sozusagen für die Mitte zwischen den beiden Arbeitsstellen entschieden. Er bringt mich zurück zu meinem Fahrrad, das ich am Werner-Forßmann-Krankenhaus zurückgelassen habe. Ich fahre zum Bahnhof und bin mit dem Regionalzug in ca. 45 Minuten wieder in Berlin. Das kann man gut täglich absolvieren. Ich habe rundum positive Einblicke und Eindrücke mitgenommen und komme wieder einmal zu dem Schluss, dass das deutsche Gesundheitssystem auch außerhalb von Metropolen sehr gut funktioniert.
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Bildquelle: Derek Torsani, unsplash