Wir haben einen Mangel an Pflegekräften. Manche sprechen sogar vom Pflegenotstand. Zeit, einige grundsätzliche Überlegungen anzustellen.
Stimmen wir uns ein mit der Betrachtung eines untauglichen, wenn nicht gar zynischen Versuchs, dem Problem abhelfen zu wollen: Man möchte die Pflege attraktiver machen, indem man sie akademisiert. Ich bin der Meinung, dass es der Pflege grundsätzlich nicht an Attraktivität mangelt. Aber dazu gleich.
Viele gucken, einer schaufelt
Beim Nachdenken über das Vorhaben, die Pflege zu akademisieren, trat mir ein Poster vor Augen, das jahrelang im Büro unseres neuroradiologischen Oberarztes hing und das ich als gelungenes Beispiel gehobenen Bürohumors betrachten würde. Auf dem Poster ist einer, nennen wir ihn der Einfachheit halber Horst, zu sehen, der in einem Loch steht und schaufelt. Gleichzeitig stehen unzählige Manager mit verschiedenen Subspezialitäten um das Loch herum und überwachen den Prozeß des Schaufelns.
Überträgt man das Bild auf die Pflege, so könnte man sich vorstellen, wie eine Pflegefachkraft einen betagten Patienten in seinem Bett wendet, wäscht und wickelt, während um das Bett herum diverse Pflegewissenschaftler positioniert sind, die den Prozeß des Wendens, Wickelns und Waschens auf seine SOP-Konformität hin überwachen. Zu diesem Zweck füttern sie verschiedene hochsensitive Bewertungsinstrumente auf ihren Touch Pads mit Daten, die dann mit komplexer Statistik ausgewertet und zu völlig neuen Einsichten führen.
Eine Pflegekraft braucht ein gutes Gespür
Angeregt durch dieses Bild betrete ich im Geiste ein Zimmer auf einer neurologischen Station. Im Zimmer befindet sich zumeist ein besonders pflegeintensiver, weil häufig immobil und gleichzeitig kognitiv beeinträchtigter Patient. Dort sehe ich den hochbetagten Herrn Breuer mit einem frischen ischämischen Hirninfarkt. Es besteht eine mäßig ausgeprägte, armbetonte, rechtsseitige Hemiparese und eine leichte motorische Aphasie. Vorbestehend findet sich eine leichte kognitive Störung, degenerativ bedingt, als Vorstadium einer manifesten Alzheimer-Erkrankung. Insgesamt eine klassische Symptomenkonstellation.
Ich frage mich, was Herr Breuer sich von den Pflegern und Schwestern so wünscht. Ich glaube, er wünscht sich genau das, was wir uns alle wünschen. Eine aufmerksame und empathische, individuelle Nöte berücksichtigende Zuwendung in Verbindung mit exzellentem, praktisch fokussierten medizinischem Know-how. Eine Pflegekraft muss nicht die neusten Studien zum Schlaganfall kennen oder – um bei dem Krankheitsbild zu bleiben, das mittlerweile die Neurologie dominiert – auf dem aktuellen Stand der Diskussion von biophysikalischen Prozessen in der Penumbra sein. Nein, sie muss ein genaues, medizinisch unterlegtes Gespür dafür haben, wie es einem Patienten geht und wann man intervenieren muß.
Fehlende Wertschätzung: Mehr Gehalt für die Pflege
Ich erinnere mich sehr gut an die inzwischen pensionierte Schwester Chen, die in den 70er Jahre, als es auch schon einmal einen Mangel an Pflegekräften gab, aus Korea nach Berlin kam. Wenn Chen den diensthabenden Arzt anfunkte, dann gab es ein nicht aufschiebbares Problem. Sie hatte ein untrügliches Gespür für den Zustand eines Patienten. Und damit sind wir auch gleich bei des Pudels Kern. Die Diskussion anläßlich des Pflegemangels nimmt das eigentliche Problem nicht ins Visier. Dieses Problem besteht darin, dass die Essenz der pflegerischen Tätigkeit nicht ausreichend gewertschätzt wird. Diese, um einmal ganz konkret zu beginnen, muss zunächst in Geldwert stattfinden. Mit einer signifikanten Gehaltssteigerung würden sowohl Ansehen als auch Attraktivität dieses Berufs steigen.
Die in diesem Zusammenhang häufig hervorgebrachte Äußerung, eine angemessene Honorierung stelle nicht das zentrale Problem dar und man solle sich doch bitte nicht nur auf Geld fokussieren, erschließt sich mir nicht. Ich frage mich dann, warum der Pflegeberuf in dieser Frage im Vergleich zu allen anderen Berufen eine Ausnahme darstellen soll. Krankenhausärzte, um bei einem verwandten Metier zu bleiben, haben vor Jahren heftig dafür gestritten, dass eine neue Gehaltsstruktur im Krankenhaus etabliert wurde. Und Fluglotsen werden auch nicht müde, die besonderen Anforderungen ihres Berufsstandes herauszustellen.
Praktische Tätigkeiten werden weniger wertgeschätzt
Aber es gibt noch einen anderen Aspekt in dieser Debatte. Die ganze Diskussion ist unehrlich: Denn praktische Tätigkeiten werden in unserer Gesellschaft insgesamt weniger wertgeschätzt; im politischen Diskurs gibt das aber niemand zu. Viel lieber betont man stattdessen die große Verbundenheit, die man mit der praktischen Sphäre spürt, forciert aber gleichzeitig die Akademisierung aller Lebensbereiche.
Wie trefflich formulierte es vor einigen Wochen ein Elektroingenieur in meiner Sprechstunde: Weder im Bachelor- noch im Masterstudium lernt man, wie man ein Kabel unter Putz verlegt. Das muss aber auch einer machen. Hier folgt häufig unmittelbar der Einwand, dass solche Tätigkeiten, wie auch die Pflege, zunehmend von kleinen wieselflinken R2D2s übernommen werden könnten. Ich habe eine nicht-repräsentative Umfrage unter meinen Freunden und Bekannten gemacht. Auch wenn alle R2D2 ziemlich süß finden, möchte sich derzeit doch niemand von ihm pflegen lassen.