Pockenepidemien sind Geschichte. Damit die Masern ebenso verschwinden, sind hohe Durchimpfungsraten notwendig, die Impfskeptiker und der schwierige Zugang zu Kleinkindern in Afrika und Asien bisher verhindert haben. Nach Ansicht von Experten wäre eine Impfung dann ideal, wenn Kinder zum ersten Mal medizinische Hilfe in Anspruch nehmen: Bei ihrer Geburt.
Es ist ziemlich genau ein halbes Jahr her, dass in einem Münchener Krankenhaus ein 26-jähriger Patient an Masern starb. Ein Arzt und eine Krankenschwester steckten sich an, in der Folge ein weiterer Patient. Glücklicherweise überstanden sie alle die Infektion ohne Folgen.
Masern: Bisher unausrottbar
Hätte die Weltgesundheitsorganisation WHO ihre Ziele erreicht, hätte ein solcher Vorfall nicht mehr passieren dürfen. Denn eigentlich sollten die Masern bis 2010 in Europa ausgerottet sein. Dazu müssten aber mindestens 19 von 20 Eltern dafür sorgen, dass ihr Kind dagegen geimpft wird. Als einziges Land Europas schafft Finnland diese Quote. Deutschland hinkt mit rund 80 Prozent weit hinterher.
In vielen Kinderarzt-Praxen mit vollen Wartezimmern und quengelndem Nachwuchs bleibt kaum Zeit für ein längeres Gespräch mit Eltern, die Zweifel an der Unbedenklichkeit von Impfstoffen haben. Immer noch weit verbreitet ist in die Ansicht, es wäre besser für das Immunsystem der Kinder, die Krankheit durchzustehen, als sich mit einer Injektion davor zu schützen. Der beste Zeitpunkt für ein solches Gespräch mit kritischen Eltern wäre eigentlich lange vor der Geburt.
Eine Studie im amerikanischen Colorado hat die Folgen der Verweigerung anschaulich gemacht: Ungeimpfte Kinder haben dort ein 23 mal größeres Risiko, an Keuchhusten zu erkranken, die „Chancen“ für Windpocken liegen neunmal über denen von Geimpften. Sechs mal mehr Kinder ohne Impfschutz werden in Kliniken gegen eine Pneumokokken-Infektion behandelt. Dazu kommt: Wer etwa Masern hat, bei dem steigt auch das Risiko einer Lungenentzündung. Und noch immer verläuft fast jeder fünfhundertste Fall tödlich.
Spritze bei der Geburt schließt Lücken im Impfschutz
Wenn schon in Europa und den USA die Skepsis gegenüber einer Masern-Impfung so groß ist, so ist es noch viel schwieriger, die Erreger in weniger entwickelten Staaten auszurotten. Immerhin konnte die internationale „Masern-Initiative“ im August vermelden, dass inzwischen rund eine Milliarde Kinder in 60 Entwicklungsländern geimpft und die globale Todesrate in den letzten zehn Jahren um fast vier Fünftel gesunken ist. Die größten Sorgenkinder sind für die Organisation neben Indien die afrikanischen Staaten Kongo und Äthiopien.
Wie kann man Mütter und ihre Kinder rechtzeitig erreichen, um sie aufzuklären und zu schützen? Guzman Sanchez-Schmitz und Ofer Levy von der Harvard University diskutierten vor Kurzem im Fachmagazin „Science Translational Medicine“ die Möglichkeit, Kinder dann zu impfen, wenn sie ohnehin Kontakt mit der medizinischen Versorgung haben: Bei ihrer Geburt. Wäre es möglich, schon kurz nach dem ersten Schrei das Immunsystem auf die Begegnung mit pathogenen Keimen vorzubereiten, könnte auch ein mehrmonatiges „Empfänglichkeitsfenster“ geschlossen werden. Wenn die Antikörper der Mutter nach einigen Monaten nicht mehr da sind, ist das Baby bis zu seiner ersten Impfung ohne Schutz. Wenn dann die kranke Nachbarschaft oder gar die eigene Familie als Überträger Kontakt zu den Kleinkindern hat, ist das Risiko einer Infektion hoch.
Probleme: Schwache Titer, einseitige Immunantwort
Zur Zeit sind nur drei Impfstoffe für die neonatale Anwendung zugelassen. Vakzine gegen das Hepatitis-B-Virus, das orale Poliovakzin und das altbekannte BCG gegen die Tuberkulose, der weltweit am meisten verwendete Impfstoff überhaupt. Sowohl ein Pertussis-Vakzin als auch Impfstoffe gegen Diphtherie/Tetanus lieferten in Studien bisher nur einen suboptimalen Antikörper-Titer bei Frischgeborenen.
Ein großes Problem bei der Entwicklung solcher Impfstoffe bei Neugeborenen ist die schwache Th1-Immunantwort. Der Sinn dieser gebremsten Reaktion liegt wahrscheinlich darin, eine Antwort auf fremde Antigene der Mutter zu verhindern und damit unter Umständen einen Abort aus eigenem Verschulden. Während das heranwachsende Immunsystem also wohl ganz gut mit extrazellulären Angreifern fertig wird, braucht es für die passende Antwort auf intrazelluläre Bedrohungen noch etwas Reifezeit. Möglicherweise lässt sich aber dieser Mangel mit geeigneten Adjuvantien ausgleichen.
Regionale Antigen-Variation
Ein weiterer wichtiger Punkt, den Impfstoff-Forscher berücksichtigen müssen, sind regionale Unterschiede in der Zusammensetzung der Pathogene. Die Impfung gegen Haemophilus influenza Typ B ist in Finnland sehr effektiv, nicht aber in Alaska. Ähnlich sieht es bei Impfstoffen gegen Rota- und Hepatitis B-Viren aus. Besonders in den Ländern, in denen das Hepatitisvirus weit verbreitet ist, entwickeln sich zur Zeit neue Genotypen, gegen welche die derzeitige Impfung (gegen den Typ A2) nur sehr eingeschränkt schützt.
Eine Impfstoff-Entwicklung je nach Häufigkeit der Subtypen verschlingt enorme Finanzmittel. Der Schutz durch personalisierte Vakzine je nach Bedarf bleibt damit ein vorerst unerfüllbarer Wunsch. Allein 10 Milliarden Dollar Entwicklungskosten für neue Vakzine veranschlagt die Bill&Melinda-Gates-Stiftung für die nächsten zehn Jahre. Bei einer 90-Prozent-Abdeckung in den Verbreitungsgebieten der wichtigsten Erreger könnten damit fast acht Millionen Kinder gerettet werden, schreibt „Lancet“-Herausgeber Peter Horton in einem Editorial vor einigen Wochen. Betrachtet man wiederum die Masern, macht aber eine Impfung mit Kosten von rund einem Dollar pro Injektion den Verlust durch Krankheit und Tod weit mehr als wett.
Gerüchte und Verunsicherung wandern schnell
Politik und Medien können viel dazu beitragen, dass die Erfolgsaussichten steigen und Polio, möglicherweise auch die Masern bald ganz verschwinden. Dazu gehört aber eine abgestimmte gemeinsame Strategie. In 79 Ländern mit Diphtherie/Tetanus-Impfung kam eine Untersuchung auf 29 unterschiedliche Impfpläne. Bei der Diskussion über die Sicherheit von Impfungen gegen Hepatitis B widersprachen sich vor einigen Jahren die französische Regierung und die WHO und verunsicherten damit die Bevölkerung. Schließlich verbreitete sich in Nigeria die Kinderlähmung nach 10-jähriger Absenz wieder, weil politischer Streit eine Massenimpfung im Norden des Landes verhinderte. In fast allen Medien tauchte schließlich die Arbeit von Andrew Wakefield auf, der mit falschen Daten einen Zusammenhang zwischen Impfstoff gegen Masern/Mumps/Röteln und Autismus und Darmerkrankungen herstellte. Erst zwölf Jahre nach der Publikation zog der „Lancet“ die Arbeit offiziell zurück.
Aufklärung über die Bedeutung frühzeitiger Impfungen ist notwendiger denn je. Kleine Interessensgruppen haben via Social Web die Möglichkeiten, ihre Thesen in kürzester Zeit um die Welt zu verbreiten. Dabei ist beim Impfen selbst "Zuwarten" gefährlich. Das British Medical Journal berichtete 2010, dass der mütterliche Schutz vor Masern wohl sehr viel schneller zu Ende ist als gedacht. Eine Untersuchung der Universität Antwerpen ergab, dass im Alter von sechs Monaten alle Kinder ungeschützt waren, ganz gleich, ob die Immunität der Mutter von einer Impfung oder der Krankheit selbst herstammte. In Deutschland impft der Arzt Kinder im Alter zwischen 11 und 14 Monaten. Und auch nur dann wenn die Eltern bereit sind, etwas für das Verschwinden der Krankheit zu tun.