TEIL 2 | Herr Vogel ist wieder da. Doch diesmal ist etwas anders: Er erstarrt, wo er sonst um sich schlägt. Wie ihn der Rollenwechsel vom Täter zum Opfer sprachlos macht – und warum mich das hoffen lässt.
Herr Vogel ist wieder da. Ich weiß, so hat schon mal einer meiner Texte angefangen (hier nachzulesen). So ist das bei uns und speziell bei Herrn Vogel. Zwei Meter groß, 120 kg schwer, ein manisch-psychotischer Vulkan im impulsiven Dauerzustand kurz vor dem Ausbruch. Wird festgenommen, sitzt, wird entlassen, kommt wieder rein, geht wieder raus, und in den Phasen dazwischen hinterlässt er verbrannte Erde, wo er geht und steht.
Er schaffte es nach seiner Entlassung dieses Mal bis zum Bahnhof und hatte sogar Zeit, in ein Hotel einzuchecken. Um seine Medikation kümmerte er sich natürlich wie immer nicht, sodass der Spiegel fiel und fiel. Als er am zweiten Abend die Einkaufsmeile entlangschlenderte, überkam ihn das Bedürfnis, eine Dame um ein wenig Geld zu ersuchen: ,,Gib’ mir zwei Euro, du Schlampe.“ Die Dame schlug die Bitte aus, also verlieh Herr Vogel seinen Worten Nachdruck: „Zwei Euro hab’ ich gesagt, sonst schlag ich dir die Fresse ein, du Stück Scheiße!“ Trotz der eindringlichen Aufforderung konnte die Dame sich nicht zu diesem Gefallen durchringen und rief stattdessen die Polizei. Die Sache nahm ihren Lauf. Eine Polizistin hat nun eine gebrochene Nase, ihr Kollege diverse Hämatome, und Herrn Vogel fehlen zwei weitere Zähne. Außerdem ging ein Funkgerät zu Bruch und der Streifenwagen hat eine Delle, weil Herr Vogel zunächst Einwände gegen die Verbringung aufs Revier hatte. Eigentlich alles wie immer.
Hier drinnen kommt Herr Vogel verhältnismäßig gut zurecht. Hier kennt er sich aus und hat seine Bezugspersonen. Mich zum Beispiel. Unsere Wege kreuzen sich seit zehn Jahren immer wieder und ich bin eine der ersten, nach denen er im Zugang fragt. Herr Vogel ist maximal anstrengend – die Interaktion mit ihm ist tagesfüllend, wenn man nicht gut aufpasst. Wenn ich mit Patienten arbeiten muss, die schwer zu ertragen sind, versuche ich als erstes, etwas zu finden, was sie sympathisch macht. Beinahe jeder Mensch hat solche Anteile. Was nicht heißt, dass man die Person im Ganzen als liebenswert einschätzen würde, aber es hilft, eine Arbeitsebene zu finden. Herr Vogel zum Beispiel hat einen gewissen Sinn für Humor. Wenn man ihn beim Lügen erwischt, quittiert er dies mit einem kleinen Grinsen, als würde er sich schelmisch darüber freuen, dass er es geschafft hat, uns an der Nase herumzuführen. Er erinnert dabei an einen kleinen Jungen, dem es gelungen ist, seinem besten Freund einen Streich zu spielen. Herr Vogel ist aber hochgefährlich. Ich spreche ihn nie allein. Er hat in den letzten Jahren viele Bedienstete verletzt, Fachdienste bedroht und eine beträchtliche Summe an Sachschäden verursacht. Das Gefahrenpotenzial steht und fällt mit seiner Medikation. Der Kern unserer Gespräche ist also die Medikamentencompliance. Erst wenn der Spiegel passt, können wir uns anderen Themen widmen.
Dieses Mal scheint er gut „ausgewuchtet“ zu sein. Er läuft seit einigen Tagen nahezu problemlos mit den anderen Gefangenen auf dem Gang. Wenn ich bei Aufschluss über die Abteilung laufe, springt er mir nicht schreiend aus dem Haftraum vor die Nase, sondern läuft neben mir her und ergießt seinen Redeschwall beinahe sozialverträglich vor sich her. Vier Tage lief das so. Ich hatte Hoffnung, dass sich Herr Vogels multiple Diagnosen vielleicht wie von Zauberhand auswachsen würden.
Als ich heute in meinem Büro an der Dokumentation sitze, wird es plötzlich laut im Gang. Das passiert manchmal und hat häufig keinerlei Bedeutung. Den Jungs ist langweilig und deshalb ist alles eine Party wert. Der Hausarbeiter kommt das erste Mal in seiner Privatkleidung auf den Gang – Gegröle. Malik aus der 63 wird zur Gerichtsverhandlung abgeholt – Gegröle, Affenlaute und „viel Glück“-Rufe. Farhat hat seine Telefongenehmigung erhalten – Sie erraten es: Gegröle. Diesmal aber ist es konkreter. Sie grölen etwas bestimmtes. Einen Namen? Es wird lauter, alle steigen ein. ,,Paul! Paul! Paul!“ Herr Vogel heißt Paul. ,,PAULI!“ „PAULPAUL!“ „PAULINCHEN!“ Ich stehe auf und gehe nachsehen.
Am anderen Ende des Ganges steht bereits Moritz vom Allgemeinen Vollzugsdienst (AVD) und zögert. In der Mitte des Ganges steht Herr Vogel mit hochrotem Kopf, die Schultern gespannt, den Kopf eingezogen. Ich kann seine Körperhaltung nicht deuten, aber keine Körperhaltung dieses Menschen hat in so einer Situation etwas Gutes zu bedeuten. Um ihn herum eine Meute Gefangener „PAUL!“ „PAULHALT’SMAUL!“ „PAULMAULPAUL!!!“ Wollen die sterben? Ich versuche, zu erkennen, wer schreit. Alle sind in Bewegung, ständig verschwindet wer in den offenen Hafträumen und kommt wieder heraus. Moritz funkt mich an: „Ich seh’ nicht, wer schreit. Du vielleicht?“ – „Negativ. Ich geh mal rein. Bitte bleib da.“ Wir öffnen die Türen auf beiden Seiten des Ganges. Es ist völlig unklar, was in den nächsten Sekunden passiert.
„EINSCHLUSS!“, brüllt Moritz. Das Allheilmittel in allen unklaren Situationen. So ein Gang fasst ungefähr vierzig Personen. Mit denen wird man eh nicht fertig. Aber es sind nie alle, die eskalieren. Meist nur wenige und der Rest ist kooperativ. Die meisten sind sogar auf unserer Seite. Die Ansage „Einschluss" bedeutet für die Gefangenen: Jeder begibt sich sofort in seinen Haftraum. So erhält man schnell einen Überblick und klärt die Situation. Was bleibt, sind die Basis-Störer – und das sind häufig nur ein oder zwei. Einige Gefangene beschweren sich lautstark über das vorzeitige Ende des Aufschlusses: „Was für ’ne Scheiße ist denn das?“ „Wir haben noch!“ Herr Vogel steht schockstarr und kurz vor der Explosion in der Mitte des Ganges und rührt sich nicht, ähnlich einer Katze, die man soeben aus der Badewanne gezogen hat. Mir platzt der Kragen: „SEID IHR ALLE BESCHEUERT?! BIN ICH HIER IM KINDERGARTEN GELANDET?!“ Moritz schließt der Reihe nach die Gefangenen ein und überlässt mir das Reden. „ALLE AUF EINEN? WIE ASOZIAL SEID IHR???“
Herr Vogel schleicht an mir vorbei und stellt sich hinter mich. Komischerweise fühle ich mich von ihm nicht bedroht. Ich schiebe ihn trotzdem an seinem Arm ein Stück weg von mir. Gehorsam entfernt er sich einen Schritt. Das verstört mich. „Wegen den Arschlöchern haben wir jetzt Einschluss, Mann!“, mault der Neue aus der 15 nach. Es kostet mich Mühe, meine Lautstärke zu drosseln – hat durchaus auch mit meinem Adrenalinpegel und dem Zweimeter-Psychopathen im fragwürdigen emotionalen Zustand zu tun, der sich gerade nicht von meiner Seite bewegen will. Ich blaffe den schmalen Kerl an: „Vorhin hat’s dich auch nicht interessiert. Hättest ja auch mal reingrätschen können, als die den in die Zange genommen haben. Wenn du weißt, wer es war, kannst du das ja morgen klären!“ Ich drehe mich um zu Herrn Vogel: „Und Sie bleiben hier einfach stehen und machen keinen Mucks, klar?“ – „Ja mach ich.“ Hat er das gerade gesagt? Egal. Ich helfe Moritz beim Einschluss und atme durch. Ich schließe die Hausarbeiter als letztes ein, die sind immer am vernünftigsten. Einer flüstert mir zu „Voll gut, Frau Pisch. Danke.“ Ich würde gerne lächeln, aber mein Gesicht gehorcht nicht. Die verärgerte Mimik ist festgefroren.
Ich kehre zurück zu Herrn Vogel. Er wirkt … ängstlich? Das ist neu. Er scheint selbst erstaunt darüber zu sein. „Voll gut, dass Sie so cool geblieben sind, Herr Vogel. Ich bin echt stolz auf Sie.“ Er lächelt ganz schüchtern. „Der Cocktail, den ich gerade von den Ärzten bekomme, knallt ja auch richtig gut. Und ich bin Experte in Selbstbeherrschung, das wissen Sie doch!“ Und da ist es wieder, das Lächeln, wenn er lügt. Den linken Mundwinkel etwas höher als den rechten. Aber etwas ist heute anders. In seinen Augen steht die Angst. Er holt Luft, will etwas sagen, findet eine Sekunde lang keine Worte, bevor er ansetzt, wortreich zu erklären, dass er jetzt aber keinen Einschluss haben dürfe, denn er habe ja nichts gemacht. Ich blicke unauffällig fragend zu Moritz, der unterbricht ihn „HERR VOGEL: Sie dürfen aufbleiben, aber nur, wenn sie jetzt Ruhe geben.“ Damit hat Herr Vogel nicht gerechnet.
Diese Situation ist neu für ihn. Er war lange nicht mehr das Opfer. Vermutlich seit seiner Kindheit nicht mehr. Darüber weiß ich nichts. Darüber spricht er nicht. Vermutlich hat sich auch seit Langem niemand mehr schützend vor ihn gestellt. Nachvollziehbar, denn einen solchen Menschen hat man nicht gerne im Rücken. Zudem ist Herr Vogel zu groß, zu laut, zu präsent und zu irre, als dass irgendwer außer ihm selbst an der Front stehen könnte. Bis heute. Heute war er das erste Mal wieder klein.
Wir alle haben diesen Moment herbeigesehnt. Der ein oder andere (und vielleicht sogar auch ich) hatte gar gehofft, der Typ möge endlich mal „eine auf die Fresse“ bekommen, endlich mal „an den Richtigen“ geraten, der ihn ein wenig Demut lehrt. Herr Vogel hatte viele Jahre lang die Gänge tyrannisiert. Hat Gefangene bedroht, bestohlen und sie mit körperlicher Gewalt terrorisiert. Hat Bedienstete beleidigt, bespuckt, verletzt und gezielt mit Fäkalien beworfen. Hat uns Stunden, Tage und Nächte gekostet, in denen alle anderen Gefangenen zu kurz kamen, weil Herr Vogel sein Laienschauspiel inszenieren musste. All die Jahre hat er nie wirklich Kontra bekommen.
Verstehen Sie mich nicht falsch, er blieb körperlich mitnichten unversehrt: Er wurde häufig bei Festnahmen und Zugriffen in Haft verletzt, denn ab einem gewissen Punkt funktioniert das Ganze mit gutem Zureden nicht mehr. Auf Station geriet er regelmäßig in Schlägereien, bei denen er auch einstecken musste. Er verlor Zähne, brach sich Knochen, aber eines brach nie: sein unerschütterliches Selbstbewusstsein. Sogar als man ihn nackt, beschmiert mit seinen eigenen Fäkalien in Handfesseln aus dem BgH zum Duschen führte, schien seine Überheblichkeit ungebrochen.
Ein meist gekachelter Raum ohne bewegliche Gegenstände. Häufig mit einer Stehtoilette ausgestattet, da man sich in regulären WCs ertränken könnte. Fensterlos oder milchverglast. Zum Schlafen dient eine Matratze auf dem Boden und eine Decke. Beides aus reißfestem Material, damit diese nicht in Streifen gerissen und Seile damit geknüpft werden können. Der Gefangene wird komplett entkleidet und erhält eine Unterhose aus papierähnlichem Material, welche unter Zug schnell zerreißt. Der Raum ist auf Körpertemperatur geheizt, sodass der Inhaftierte nicht frieren muss.
Die Gefangenen werden hier im Falle einer akuten Selbst- oder Fremdgefährdung für den Zeitraum ihres kritischen Zustandes untergebracht.
Bis zum heutigen Tag. Heute fehlten das erste Mal die Worte. Die Macht hatten heute die anderen. Heute wurde ER tyrannisiert. Wenn ich diese Zeilen so niederschreibe, kann ich verstehen, dass Moritz kurz gezögert hat. Man kann im Nachhinein darüber diskutieren, ob es nicht besser gewesen wäre, der Dynamik einige Momente ihren Lauf zu lassen – in der Hoffnung auf einen heilsamen Effekt. Letzten Endes aber bin ich mit mir und meinem Handeln im Reinen. Mein moralischer Kompass ist trotz all der Zeit im Vollzug intakt. Ein Mensch war in Not. Ein Mensch, der mir nicht sympathisch ist. Und dennoch habe ich nicht zugesehen, ich habe gehandelt. Und Gott sei Dank in diesem Moment genug Autorität ausgestrahlt, um einen Gang voll aufgeheizter, großer Kleinkinder zum Schweigen zu bringen.
Mein Handeln an diesem Tag brachte mir großen Respekt bei den Gefangenen ein. Seit Tagen quatscht mich niemand auf dem Gang an, weil er eine Postleitzahl oder eine Telefonnummer gegoogelt haben möchte. Ich werde höflich gegrüßt und die Gefangenen treten respektvoll beiseite, wenn ich den Gang betrete.
Und Herr Vogel? Auch der ist seit dem Vorfall ein bisschen leiser geworden. Im heutigen Gespräch hat er ein verschmiertes, angesengtes Blatt Papier dabei, auf welchem er über diverse Kaffeeflecken (ich hoffe, es war Kaffee) seine Anliegen notiert hat. „Damit das Ganze mal ein bisschen strukturierter von dannen geht. Damit Sie auch in der Tiefe konstruktiv arbeiten können.“ Mit einer Mischung aus Ekel, Stolz und Rührung nehme ich das Papier an mich. Ein Punkt lautet „Eine Psychologin für draußen, mit derselben kompakten Anmutung und Durchsetzung wie Frau Pisch.“ Das ist nicht nur außerordentlich klar formuliert, sondern auch ein eindeutiger Ausdruck von Wertschätzung. Beides ist neu. Ich frage nach. „Ja, ich brauche nicht so eine Gänsemutter und Kalk, keine so ’ne Tante wie die aus dem Ende SüdbaudieistnefalscheSchlangediewilleinfachnurnichtmitmirreden. Ich brauche jemand wie Sie, der auch mal was dagegen sagt, wenn es nicht passt und die Stimme erhebt, wenn es zwickt und zwackt …“ Ich bekomme ja glatt feuchte Augen. „So wen hätte ich für draußen gedacht, wenn Sie mir dabei helfen könnten.“
Ich versuch’s Paul, ich versuch’s – gegen deine Dämonen, gegen meine Zweifel und gegen eine Welt, die dich längst aufgegeben hat.
Bildquelle: Yianni Mathioudakis, Unsplash