TEIL 1 | Herr Vogel steckt voller Überraschungen – das macht die Arbeit mit ihm extrem herausfordernd. Wie geht man mit einem Menschen um, der im normalen Leben nie wieder funktionieren wird?
Herr Vogel ist wieder da. Paul Vogel ist ein zwei Meter großer, hundertzwanzig Kilogramm schwerer, hochimpulsiver und kern-manischer Berg von einem Menschen. Hin und wieder plagt ihn eine Psychose, wobei nie wirklich klar wird, ob sich diese tatsächlich gerade in seinem Gehirn manifestiert hat – oder ob er sich nur einen Spaß daraus macht, diese vorzutäuschen. Herr Vogels Zustand schwankt in den letzten Jahren zwischen einem neurologischen Testbild und einem hochfunktionalen, hypervigilanten Opportunisten.
Im vergangenen Jahrzehnt gab es kaum einen Zustand, in dem ich diesen Mann nicht gesehen habe: Hochaggressiv, spuckend, schlagend, Mobiliar durch die Gegend schleudernd – dann wieder aufdringlich albern, häufig nackt, oft sexualisiert und immer wieder mit Fäkalien oder anderen Körperflüssigkeiten beschmiert. Eine Zeitlang sammelte er letztere über den Tag hinweg in einem Behälter, um dann irgendeinen unbedarften Kollegen, schallend lachend, mit einer solchen „Bombe“, wie er es nannte, an der Kostklappe zu überraschen. Niemand hat in den vergangenen Jahren mehr Kollegen im korrekten Öffnen der Kostklappe geschult als Herr Vogel: Seitlich. Damit einen diverse Wurfgeschosse nicht so leicht treffen können.
Mehr als einmal habe ich Herr Vogels Penis zu Gesicht bekommen, weil er es für eine gute Idee hielt, diesen bei jeder Gelegenheit auszupacken und die umstehenden Personen eine Bewertung darüber abgeben zu lassen. Und mehr als einmal wurde Herr Vogel aus meinem Büro getragen, weil er sich nicht an die Gesprächsregeln hielt, aber auch nicht gehen wollte. Unsere Gesprächsregeln, die sich im Laufe der Jahre als funktional erwiesen haben, lauten: Keine Beleidigungen (von anwesenden oder abwesenden Personen), nicht schreien, nichts werfen, nichts anfassen und die Psychologin darf auch sprechen. Der Versuch, die Psychologin anzufassen sowie jegliches Vorzeigen von Genitalien führt zum sofortigen Abbruch der Sitzung. Ebenso wie stark sexualisierte Äußerungen oder ein Entkleiden.
Einen Großteil der Zeit verbringen wir im Grunde damit, die Regeln zu diskutieren: „Was heißt schreien?“; „Sie haben auch geschrien“; „Ich würde die Sozialarbeiterin gerne küssen“ ist nicht sexualisiert, weil „Küssen ist kein Sex“; „Lautstark Singen ist nicht schreien“; „Ich habe Ihnen ein Gebet geschrieben, das muss aber in voller Lautstärke vorgetragen werden, sonst wirkt es nicht“, und so weiter.
Ein Gespräch mit Herrn Vogel zu beenden gleicht dem Versuch, einen völlig überzuckerten Fünfjährigen nach einer Geburtstagsparty vorzeitig ins Bett zu bringen.
Man käme leicht auf den Gedanken, sich einfach umzudrehen und die Szene zu verlassen. Es ist ja kein wirklicher Dialog und der Eindruck drängt sich auf, dass die Reaktion des Gegenübers für Herrn Vogel eh keinerlei Relevanz hat. Leider kann Herr Vogel mit unabgeschlossenen Situationen nicht gut umgehen. Schließt man also mitten im „Gespräch“ die Kostklappe oder flüchtet sich jenseits eine der für die Gefangenen unüberwindbaren Brandschutztüren am Ende des Ganges, so ist eine Eskalation vorprogrammiert: Manchmal schreit er, häufig singt er. Wenn er mit der Situation gar nicht mehr klar kommt, fliegen Dinge gegen die Wände. Aschenbecher, Stühle, Fernsehgeräte, die zuvor aus der Verankerung gerissen werden. Dann ist er meist auch nicht mehr einzufangen. Mit etwas Glück folgt eine regressive Phase, in der er sich trotzig in seinem Bett zusammenkrümmt und weint – meist aber endet es mit einer Absonderung. Ich versuche also jedes Mal krampfhaft, das Gespräch im Konsent aufzulösen und einen harten Abbruch zu vermeiden. Das kostet bis zu zwanzig Minuten.
Auf seinem Gang dreht sich ALLES! IMMER! um Herrn Vogel. Sein Redefluss ist unstillbar, und seine Energie erstickt jegliches Leben um ihn herum. Wo Herr Vogel ist, ist nichts anderes. Herr Vogel hat kein Distanzgefühl. Er dringt ungefragt in fremde Hafträume ein, fasst seine Mitgefangenen mit schmutzigen Fingern an und springt mit heruntergelassener Hose auf den Gang, weil er eben auf Toilette saß und die Sozialarbeiterin gehört hat undderschnellnochwassagenwollte … Wenn die Manie mal wieder Besitz von ihm ergreift und seine tagesfüllenden Einlagen für das ganze Haus unerträglich werden, helfen sich unsere Ärzte bisweilen mit einer guten Portion Haldol. Das schlägt glücklicherweise an. Herr Vogel vegetiert dann einige Tage wie ferngesteuert über den Gang – und alle Beteiligten erhalten eine Verschnaufpause.
Herr Vogel ist ein Bumerang. Er bleibt nie lange auf freiem Fuß – er kommt draußen auch gar nicht klar. Ab und zu nimmt ihn die Psychiatrie, aber immer wieder landet er am Ende bei uns. Die Struktur seiner Taten ist immer dieselbe: Er pöbelt Leute an, redet aggressives, wirres Zeug, die Polizei wird irgendwann hinzugezogen, das Ganze eskaliert (Widerstand), Herr Vogel schlägt zu (Körperverletzung). Der Polizist sei ein „Hurensohn", und er werde ihn „mit den Genitalien seiner Mutter füttern" (Beleidigung). Manchmal wird noch eine Fensterscheibe eingeschlagen oder ein herumstehendes Auto demoliert (Sachbeschädigung). Auch Drogen sind immer mal wieder im Spiel, aber in den letzten Jahren reichte die Zeit in Freiheit hierfür oft nicht aus. Der Rekord waren 32 Minuten von Entlassung bis zur Festnahme: Herr Vogel schaffte es nicht einmal bis zum Bahnhof.
Die Beziehung zu mir ist eine der längsten und stabilsten, die dieser arme Mensch in den letzten Jahren hatte. Dementsprechend ist da eine gewisse Bindung und Kooperationsbereitschaft. Zwar eskaliert Herr Vogel auch in meiner Anwesenheit regelmäßig, aber seine Wortwahl mir gegenüber unterscheidet sich deutlich gegenüber der anderer „Gesprächspartner“. Man könnte auch sagen: Er beleidigt mich respektvoller.
Ab und zu ertappe ich ihn beim Vortäuschen seiner manisch-psychotischen Ausraster. Kleinigkeiten verraten ihn dann. Neulich täuschte er einen „Demenzschub" vor (er nannte es so) und irrte scheinbar orientierungslos über den Gang. Augenscheinlich zufällig stolperte er ins Stationsbüro, in welchem ich gerade mit dem Kollegen vom AVD am Tratschen war. „Ich wollte nicht stören, nur anmerken, dass die Kirchturmuhrgehäusestange nicht mehr auf derselben Seite zu finden ist wie noch vor der Zeit des kalten Krieges und Mailand ..." in solchen Momenten kostet es mich körperliche Anstrengung, nicht mit den Augen zu rollen und meine Mimik im Griff zu behalten. ,,Herr Vogel, wo wollen Sie denn jetzt hin?" eröffne ich das Drama.
„SIE?!“, er reißt die Augen auf, als habe gerade ein Hubschrauber eine dreiköpfige Giraffe vor ihm abgeworfen, „Woher kennen SIE denn meinen Namen?“ – „Herr Vogel, das Spiel spielen wir jetzt nicht schon wieder. Sie wissen, ich bin die Frau Pisch. Wir kennen uns seit zehn Jahren.“ Sein Gesichtsausdruck bleibt unverändert. Er sieht aus wie eine bizarre Kunstfotografie „und in welcher werten Funktionwennichfragendarf sind Sie hiiiiaaa???“ Wie gesagt: Würde ich einfach nicht antworten, ginge das Ganze durch die Decke. Also suche ich einen Kompromiss: ,,Sie wissen, dass ich die Psychologin bin. Ich hole Sie auch zum Gespräch. Aber jetzt ist schon Freitagnachmittag, heute schaff ich es nicht mehr. Aber nächste Woche sicher.“ „Ooookay ... wenn es so sei, dann sei es, so es dem altruistischen Allgemeinverständnis keinen Abbruch tut …“, wendet er sich skeptisch zum Gehen, „ … bis Dienstag dann, Frau Pisch.“
Ich muss lachen. Plötzlich ist ihm nicht nur mein Name wieder geläufig; er erinnert sich sogar daran, dass ich jeden ersten Montag im Monat auswärts arbeite. Er ist also kontextuell und zeitlich – und vermutlich auch auf sämtlichen anderen Ebenen – voll orientiert. Kurz bevor er in seine Haftraumtür abbiegt, linst er noch einmal zu mir herüber und ihm entfährt ein kleines, freches Grinsen. Kurz erinnert er mich an einen überdimensionalen Pumuckl. Der Bauch kommt hin.
In den letzten Jahren ist Herr Vogel ruhiger geworden. Und doch wird der Vollzug ihn nicht reparieren, ihn niemals zu einem „brauchbaren“ Mitglied der Gesellschaft machen. Herr Vogel ist nicht „resozialisierbar“. Er wird – solange er lebt – dem Steuerzahler auf der Tasche liegen und mir auf die Nerven gehen. Seine erste Straftat war im Jahr 1983. Damals hatte man noch Hoffnung auf Besserung. Nach den ersten Diebstählen und Körperverletzungsdelikten versuchte man den jungen Paul durch Bewährungshelfer und Jugendstrafen wieder in die Spur zu bringen. Er brach dem Bewährungshelfer die Nase und floh 1985 bei einer Verbringung ins Krankenhaus aus dem Jugendgefängnis.
Darauf kamen die Straftaten in immer kürzeren Abschnitten. Er begann eine Menge Drogen zu konsumieren. Die ersten manischen Phasen stellten sich ein. Seit den 2000ern schließlich verbrachte Herr Vogel kaum mehr ein volles Jahr in Freiheit. Für eine Sicherungsverwahrung reichte es trotzdem nie. Herr Vogel kratzte mit seinen Straftaten immer an der Grenze des für die Gesellschaft Verkraftbaren.
Ab 2015 ging es mit seinen Synapsen bergab. Die Drogen forderten ihren Tribut, und die „manische Phase“ wurde zum Dauerzustand. Herr Vogel wurde zur tickenden Zeitbombe, ständig kurz vor dem Explodieren und den Auslöser konnte man oft nicht vorhersehen. Er war und ist hier drinnen nicht beliebt, weder bei den Gefangenen noch bei den Bediensteten. Er verursacht Arbeit, ist gefährlich, und der Punkt seiner Verwahrlosung sorgt bei dem ein oder anderen schon mal für Brechreiz. Eine ungute Mischung.
Als er heute aus dem Zugang auf meine Station kommt, ist irgendetwas anders. Ich sehe ihn, bevor ich ihn höre. Allein das ist schon ungewöhnlich. Auf meine Begrüßung folgt eine relativ geordnete Forderung nach einem „umgehenden und von der Dringlichkeit nicht höher einzuordnenden psychologischen Gespräch“. In Zimmerlautstärke. „Herr Vogel, Sie sind wieder hier. Sie sehen aber sehr sortiert aus heute“, begrüße ich den Mann, der irgendwie kleiner wirkt als sonst.
„Woher kennen Sie denn meinen Namen und wer sind Sie bitte?“ Ich grinse und zeige freundschaftlich mit meinem Zeigefinger auf ihn. „Sie haben gerade schon verraten, dass ich die Psychologin bin.“ – „Bis morgen, Frau Pisch.“ So schnell war noch nie ein Dialog zwischen uns beendet. Wird er langsam älter? Und da ist es wieder, das schelmische Grinsen. Wie jemand, der sich freut, einen alten Freund wiederzusehen. Jemand, der zurückkehrt an einen Ort, an dem er sich auskennt und wohlfühlt – ein Ort, an dem er zu Hause ist.
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