Es wird als Wundermittel gegen Haarverlust gefeiert, auch nach Chemotherapien. Allerdings kann Biotin wichtige Laborwerte verfälschen. Was ihr stattdessen empfehlen könnt.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Biotin, auch bekannt als Vitamin B7, ist in zahlreichen „Beauty“-Präparaten enthalten. Es soll brüchige Nägel stärken, Hautprobleme mildern und vor allem das Haarwachstum anregen – das versprechen zumindest Hersteller und Influencer. „Angesichts der großen Beliebtheit von Biotin als Haarergänzungsmittel könnte man annehmen, dass diese Behauptung auf soliden Beweisen beruht“, heißt es in einer Übersichtsarbeit. „Allerdings besteht eine große Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung seiner Wirksamkeit und der wissenschaftlichen Literatur.“ Der Nutzen von Biotin zur Förderung des Haarwachstums werde nicht durch hochwertige Studien gestützt. Trotz fehlender Evidenz stürzen sich Patienten auf Biotin. 2022 schätzt Global Market Insights den Markt auf 2,5 Milliarden US-Dollar. Für die Jahre 2023 bis 2032 erwarten Forscher eine jährliche Wachstumsrate von knapp elf Prozent. Eine große Zielgruppe: Patienten mit Krebs.
Das überrascht kaum, denn Haarverlust gehört zu den am stärksten belastenden Nebenwirkungen einer Chemotherapie, wie Layna Mager von der Ohio State University und Kollegen in einem Praxisbeitrag schreiben. Beispielsweise gaben mehr als die Hälfte aller befragten Brustkrebs-Patientinnen an, dass Haarausfall für sie der emotional schwierigste Aspekt der Behandlung sei. Auch brüchige Nägel und Hautveränderungen setzen vielen zu. Kein Wunder, dass Betroffene nach jedem Strohhalm greifen – und oft bei Biotin landen.
Eine Studie mit Patientinnen, die an Online-Selbsthilfegruppen teilgenommen haben, zeigt wiederum: Wer an Haarausfall leidet, greift häufig zu Nahrungsergänzungsmitteln, noch vor Shampoos, Seren oder einer Kühlung der Kopfhaut. Und nur sechs Prozent der Befragten hatten vor Einnahme ihrer Supplemente mit dem onkologischen Behandlungsteam gesprochen.
Biotin schadet dem Körper zwar nicht direkt. Gefährlich kann es trotzdem werden – nämlich dann, wenn es Laborergebnisse verfälscht und dadurch die Diagnose erschwert. Denn Biotin spielt in bestimmten Labortests – sogenannten Immunoassays – eine zentrale Rolle. Diese Tests messen zum Beispiel Hormone, Vitamine oder Tumormarker im Blut. Viele dieser Assays nutzen das extrem starke Bindungssystem von Biotin und Streptavidin, um bestimmte Moleküle im Test gezielt festzuhalten oder nachzuweisen.
Dabei werden Antikörper oder Antigene künstlich mit Biotin versehen (biotinyliert). Diese biotinylierten Moleküle binden an das Protein Streptavidin, das auf einer festen Oberfläche sitzt, etwa auf Magnetkügelchen oder auf einer Testplatte. So können die Zielmoleküle (z. B. ein Hormon) zuverlässig „eingefangen“ und anschließend gemessen werden. Freies Biotin als Folge der Supplementation konkurriert bei Tests mit den biotinylierten Molekülen um die Streptavidin-Bindungsstellen. Die Folge: Der Test funktioniert nicht mehr wie geplant.
Schon eine geringe Biotin-Dosis kann Messungen von Hormonen, Tumormarkern und anderen Parametern verfälschen. Einige der möglichen Folgen:
Layna Mager und ihre Koautoren raten allen Ärzten deshalb, ihren Patienten zu empfehlen, Biotin-Präparate zwei bis drei Tage vor geplanten Blutentnahmen abzusetzen – insbesondere bei hohen Dosen. Und bei auffälligen oder widersprüchlichen Laborwerten sollten sie stets in Erfahrung bringen, ob die Patienten Supplemente einnehmen.
Damit ist Biotin erst einmal vom Tisch, doch das Problem bleibt: Was können Onkologen Patienten mit Haarausfall empfehlen? Hoffnung macht ein Wirkstoff, der zur Behandlung der androgenetischen Alopezie schon lange eingesetzt wird: Minoxidil. In einer randomisierten, doppelblinden Studie erhielten 22 Frauen, die nach einer Brustoperation mit einer adjuvanten Chemotherapie behandelt worden waren, eine zweiprozentige topische Minoxidil-Lösung oder ein Placebo. Minoxidil verkürzte die Phase der völligen Kahlheit deutlich. Im Durchschnitt wuchs das Haar 50 Tage früher wieder nach als in der Kontrollgruppe. Die Behandlung zeigte keine nennenswerten Nebenwirkungen.
Auch bei später Alopezie, also unvollständigem Haarwuchs mehr als sechs Monate nach einer Chemo- oder Hormontherapie, könnte sich Minoxidil eignen. Das zeigt eine einarmige Studie mit 216 Patientinnen. Die meisten von ihnen hatten Brustkrebs. Nach einer mittleren Behandlungsdauer von gut drei Monaten mit oralem Minoxidil verbesserte sich bei 74 Prozent der Frauen der Haarwuchs deutlich. Auch die Haardichte nahm messbar zu. Im Stirnbereich stieg sie im Schnitt von 124 Haaren auf 153 Haare pro Quadratzentimeter, im Hinterkopfbereich von 100 Haaren auf 124 Haare. Bemerkenswert ist die gute Verträglichkeit: Keine Teilnehmerin musste die Behandlung aufgrund von Nebenwirkungen abbrechen.
Beide Arbeiten zeigen, wie Mager und ihre Koautoren betonen, dass Minoxidil eine sichere und effektive Option für Krebspatienten ist, falls Patienten nach einer Chemo- oder Hormontherapie unter anhaltendem Haarausfall leiden. Orales Minoxidil ist nicht für die Behandlung von Haarausfall zugelassen; es handelt sich um eine Off-Label-Use.
Bleibt als Fazit: Der Hype um Biotin zeigt, wie stark Haarausfall viele Menschen mit Krebs belastet – und wie groß der Wunsch ist, dagegen etwas zu unternehmen. Doch gerade hier ist Aufklärung entscheidend: Was als harmloses „Beauty-Vitamin“ vermarktet wird, kann Diagnostik und Therapie beeinträchtigen. Onkologen sollten deshalb in Erfahrung bringen, ob Patienten Nahrungsergänzungsmittel einnehmen und sie über mögliche Risiken informieren.
Mager et al: Biotin Supplements for Hair and Nail Regrowth: A Caution for Oncologists. JCO Oncol Pract, 2025. doi: 10.1200/OP-25-00693
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Rose et al: Characterization of the role of Facebook groups for patients who use scalp cooling therapy: a survey study. Support Care Cancer, 2024. doi: 10.1007/s00520-024-08534-y
Balzer et al: An Analysis of the Biotin–(Strept)avidin System in Immunoassays: Interference and Mitigation Strategies. Curr Issues Mol Biol, 2023. doi: 10.3390/cimb45110549
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