KOMMENTAR | Versorgungswerke gelten als sichere Alternative zur gesetzlichen Rente. Doch die Krise beim Berliner Zahnärztewerk zeigt: Auch hier können Milliardenverluste und Rentenkürzungen drohen. Ein sinkendes Schiff?
„Bei uns seid ihr besser aufgehoben als in der gesetzlichen Rentenversicherung.“ So oder so ähnlich lautet seit Jahrzehnten das Mantra, mit dem Ärzte, Zahnärzte, Apotheker und Anwälte beruhigt in ihre Versorgungswerke einzahlen. Das Modell gilt als exklusiv, unabhängig vom Staat, angeblich konservativ angelegt und auf Generationen stabil. Wer hier Mitglied ist, entgeht den Risiken, die man der gesetzlichen Rente zuschreibt: politischer Einfluss, schwankende Umlagen und schrumpfende Rücklagen.
Im Jahr 2023 betrug die monatliche Rente aus den berufsständischen Versorgungswerken ganze 2.222 Euro – und war damit mehr als doppelt so hoch wie der Wert der gesetzlichen Rente aus Altersgründen mit 1.099 Euro im Monat. Doch die aktuelle Realität sieht anders aus. Spätestens seit das Zahnärzte-Versorgungswerk in Berlin zum Fass ohne Boden geworden ist (DocCheck berichtete), wissen wir: Der Tresor hat Löcher. Und zwar keine kleinen. Was dort geschah, war keine unglückliche Ausnahme, sondern ein Blick hinter den Vorhang.
Das Berliner Beispiel zeigt, wie riskante Anlagepolitik, schwache Kontrolle und selbstgefällige Selbstverwaltung zusammenspielen, bis das System wankt. Und es zeigt auch, wie schnell sich vermeintlich solide Altersvorsorge in ein Rentenroulette verwandeln kann, bei dem der Einsatz nicht freiwillig geschieht, sondern mit jedem Pflichtbeitrag erzwungen wird. „Besonders betroffen von der Element-Pleite ist das Versorgungswerk der Zahnärztekammer Berlin (VZB), das auch für Bremen und Brandenburg zuständig ist. Rund 10.000 Zahnärzte sind dort zwangsweise Mitglied und erwerben gegen monatliche Prämien von oft mehr als 1.000 Euro Ansprüche für ihre Altersversorgung. Sie scheiden in der Regel mit Rentenansprüchen zwischen 2.500 und 3.000 Euro aus dem Berufsleben. Im schlimmsten Fall droht den Mitgliedern des Versorgungswerks jetzt der Total-Verlust“, schreibt Focus.
Das VZB hat in den vergangenen Jahren Milliarden in Start-ups, Unternehmensbeteiligungen und Immobilienprojekte investiert – häufig ohne ausreichende Sicherheiten oder realistische Chancen auf stabile Renditen. Die Folge: ein Finanzloch, das sich nicht mehr kaschieren lässt. Nun müssen die Mitglieder mit sinkenden Rentenansprüchen und steigenden Beiträgen rechnen. Schon 2003 hatte das Versorgungswerk die Renten um 16 Prozent gekürzt – ein drastisches Signal, das damals als einmaliger Ausnahmefall verkauft wurde. Heute zeigt sich, dass es sich eher um ein Warnsignal handelte, das lieber verdrängt wurde, als es zum Anlass für strukturelle Reformen zu nehmen.
Die Krise legt ein tieferes Problem offen, denn Versorgungswerke sind Konstrukte der Selbstverwaltung. Formal bedeutet das, dass die Angehörigen der jeweiligen Berufsgruppe – also Ärzte und Zahnärzte – selbst über die Verwaltung ihrer Milliardenvermögen wachen. In der Praxis heißt das aber, dass Ehrenamtliche ohne professionelle Finanzexpertise in Gremien sitzen, die über hochkomplexe Anlageentscheidungen bestimmen. Externe Kontrolle ist minimal, die Transparenz gegenüber den Mitgliedern gering. Dieses Spannungsverhältnis zwischen hoher Verantwortung und geringer Fachkenntnis schafft einen Nährboden für Fehlentscheidungen. Wer für diese Fehler am Ende geradesteht, sind ganz klar die Beitragszahler selbst.
Noch gravierender ist, dass Versorgungswerke im Unterschied zur gesetzlichen Rentenversicherung über keinerlei Sicherheitsnetze verfügen. Während dort Bundeszuschüsse und Garantien zumindest eine Grundabsicherung schaffen, tragen Ärzte und Zahnärzte bei ihren Versorgungswerken selbst das volle Risiko. Kommt es zu Verlusten, werden diese schlicht an die Mitglieder weitergereicht. Wer einzahlt, vertraut blind und muss im Zweifel doppelt zahlen: erst durch steigende Beiträge, dann durch sinkende Renten. Damit stehen die Versorgungswerke im scharfen Kontrast zu privaten Altersvorsorgeprodukten, die zumindest durch Einlagensicherungen und strenge Aufsichtspflichten geschützt sind.
Versorgungswerke bilden damit nicht automatisch einen sicheren Gegenpol zu den gesetzlichen Rentenversicherungen. Wichtige Grundlagen wie verantwortungsvolle Anlagepolitik, transparente Verwaltung und professionelle Aufsicht sind nicht vollständig vertreten und können daher das Schiff schnell ins Wanken bringen. Die Diskussion um künftige Reformen wird daher nicht nur für die Mitglieder der betroffenen Versorgungswerke, sondern für alle berufsständischen Systeme an Bedeutung gewinnen.
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