KOMMENTAR | Zu meinem letzten Text gab es viel Gegenwind. Ich möchte erklären, warum Therapie nicht für jede Krise die Lösung ist – und warum wir normale Alltagsbelastung nicht pathologisieren sollten.
Auf meinen letzten Beitrag Psychotherapie als Patienten-Parkplatz erhielt ich viele Rückmeldungen. Einige sehr konstruktiv, viele auch bestätigend. Eine Frage war oft, ob diesbezüglich auch belastbare Daten vorliegen. Bis zur Fertigstellung meines Buches zu dem Thema wurden einige Daten zur Prävalenz von psychischen Erkrankungen und zur Debatte „Psychotherapie für alle?“ veröffentlicht (umfangreiche Literatur ist in dem o. g. Buch enthalten). Direkt nach Manuskripteinreichung erschien jedoch eine sehr wichtige Arbeit in diesem Zusammenhang, welche ich an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen möchte. Es handelt sich um das Paper von Roth und Steins (2024).
Die Autoren analysieren das fortbestehende Ungleichgewicht zwischen dem Angebot an ambulanter Psychotherapie und der hohen Nachfrage in Deutschland. Obwohl die Anzahl der Psychotherapeuten deutlich gestiegen ist, bleiben die Wartezeiten weiterhin lang. Epidemiologische Daten belegen jedoch stabile Prävalenzen psychischer Erkrankungen, was auf alternative Ursachen für die bestehende Überlastung hindeutet. Zudem spiegelt die Prävalenz der Behandlungsdiagnosen in psychotherapeutischen Praxen nicht die Häufigkeit der psychischen Erkrankungen in der Population.
Zentrale Hypothesen sind:
Diagnosepraxis: Die Diagnose Anpassungsstörung wird häufig im Zusammenhang mit Belastungen vergeben, die sich am Übergang zwischen normalen und auffälligen Reaktionen bewegen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass in vielen Fällen eine spontane Remission zu beobachten ist. Auf diesen Aspekt bin ich im o. g. Beitrag eingegangen, wobei mein Schwerpunkt nicht die Anpassungsstörung war, da es sich hier um eine psychiatrische Diagnose handelt – auch wenn diese eine streitbare Existenzberechtigung hat, was in dem Artikel von Roth & Steins diskutiert wird. Mein Beitrag befasste sich mit einer subklinischen Symptomdarstellung. Anpassungsstörung (ICD-10: F43.2) ist bzw. kann eine interventions- und behandlungsbedürftige Diagnose sein. Die Störungswertigkeit von anpassungsbedingten psychischen Prozessen möchte ich an dieser Stelle nicht diskutieren – siehe hierfür die oben erwähnte Studie sowie die im Artikel erwähnten Veröffentlichungen.
Mental Health Literacy: Ein umfassenderes Verständnis psychischer Erkrankungen kann die Bereitschaft zur Inanspruchnahme professioneller Hilfe erhöhen, birgt jedoch zugleich das Risiko, alltägliche Belastungen zu pathologisieren.
Mangelnde Priorisierung: Die Vergabe von Therapieplätzen erfolgt unabhängig vom Schweregrad der Erkrankung, sodass sowohl geringfügig als auch schwer Betroffene gleichermaßen Zugang erhalten. Meines Erachtens erhalten Menschen mit chronischen psychischen Störungen nicht den gleichen Zugang wie weniger schwer belastete Personen. Aufgrund der Chronifizierung und auch vor dem Hintergrund von fehlenden psychosozialen Ressourcen ist die Wahrscheinlichkeit für das Finden eines passenden Therapieplatzes bei dieser Patientengruppe deutlich geringer. Zudem kapitulieren Menschen mit chronischen psychischen Erkrankungen bei anhaltend unzumutbar langen Wartezeiten auf einen geeigneten Psychotherapieplatz. Unter Berücksichtigung, dass in einer üblichen Psychotherapiepraxis das Prinzip „wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ gilt und dass kein Algorithmus existiert, der nach Dringlichkeit und Symptomschwere einen Zugang zur Therapie entscheidet, können Menschen mit schweren und chronischen psychischen Erkrankungen am Ende leer ausgehen.
Die Autoren fordern daher nicht nur eine Ausweitung von Kassensitzen, sondern auch:
Mit der Ausweitung von psychiatrischen Diagnosen, Psychiatrisierung und Psychologisierung in der Gesellschaft sollte die Indikationsstellung für Richtlinienpsychotherapie dezidierter durchgeführt werden und Eingang in die Ausbildungscurricula der angehenden Psychotherapeuten finden (Anmerkung: Es geht hier um die „absolute“ Indikationsstellung, also die Frage, ob Psychotherapie überhaupt indiziert ist, nicht welches Psychotherapie-Verfahren indiziert wäre).
Psychotherapie soll nicht als Vorsorgeleistung jedem angeboten werden, wie eine Zahnreinigung. Wenn dies so gesundheitspolitisch und gesellschaftlich gewollt und gefordert ist bzw. wird, dann sollten die entsprechenden Gesetze und Richtlinien auch geändert werden. Eine Behandlung von normalpsychologischen Prozessen trägt nicht zur Resilienz einer Gesellschaft bei – im Gegenteil.
Bildquelle: Unsplash+ Community