Frau A. stellt sich bei mir im Erstgespräch vor, ihr Hausarzt hat sie wegen einer Depression überwiesen. Wie so oft frage ich mich: Ist eine Psychotherapie überhaupt nötig – oder nur die letzte Idee, die ihr Arzt hatte?
Frau A. ist 32 Jahre alt. Sie arbeitet als Assistenz der Geschäftsleitung eines mittelständischen Unternehmens. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder (13 und 15 Jahre alt). Sie hat gemeinsam mit ihrem Mann in den letzten 2 Jahren ein Einfamilienhaus gebaut. Die finanzielle Situation der Familie wird als durchschnittlich bezeichnet. Diagnostisch nicht festgestellte depressive Symptomatik bei ihrer Mutter und ihrer Tante. Ihr Ehemann arbeite viel, sogar sehr viel.
„Es ist alles teurer geworden und man will den Kindern auch etwas bieten können!“ Warum Frau A. in die psychotherapeutische Sprechstunde gekommen ist, will ich wissen. „Es ist mir alles zu viel. Der ganze Stress in der Bauphase, die Arbeit, der Chef – und meine Mutter! Sie ist noch ganz fit im Kopf, aber körperlich geht es der nicht so gut. Ich muss mich ab und an um Einkäufe und Behördengänge kümmern.“„Was ist genau das Beschwerdebild?“, will ich wissen.„Na, es ist mir einfach alles zu viel! Ich weine oft und bin irgendwie schlapp; bin nah am Wasser gebaut. Man streitet sich öfter und dann denke ich so, ich will nicht mehr!“„Wer ist ‚man‘ und was heißt das genau, Sie wollen nicht mehr?“, frage ich nach. Frau A. schaut mich ratlos an. Dann beginnt sie, zu weinen. „Wie soll ich das beschreiben? Also, mein Mann und ich, wir verstehen uns ganz gut, alles okay. Aber wenn es mir zu viel wird, dann kann ich einfach nicht mehr …!“
Ich unterbreche: „Was meinen Sie mit ‚ich kann oder will nicht mehr‘? Also, haben Sie Gedanken, sich etwas anzutun?“ Frau A. ist jetzt emotional sehr aufgewühlt, senkt den Kopf und weint heftig. „Ja … so weit ist es gekommen!“ „Wie weit?“, will ich wissen. „Na, dass ich daran denke … Ich würde das aber nie machen. Ich habe zwei Kinder und ein gutes Leben.“
Frau A. kann glaubhaft und gut nachvollziehbar erläutern, dass sie keine akuten Suizidgedanken hat, ebenso keine suizidalen Handlungsimpulse – weder jetzt noch in der Vorgeschichte. Die psychopathologische Exploration ergibt Anhaltspunkte für Ruhewünsche und eine nachvollziehbare Überforderungsreaktion, die gedanklich ihre Flucht in „alles aus und nur Ruhe“ findet. Sie war auch bislang nicht in psychotherapeutischer oder psychiatrischer Behandlung. Das Gespräch mit mir, in einer psychotherapeutischen Praxis, ist für sie „sehr ungewohnt“. „Ich wusste gar nicht, was ich Ihnen alles erzählen soll und dachte schon die ganze letzte Woche, wo soll ich denn anfangen?“ Ich nicke und füge hinzu: „Sie berichten mir lediglich das, was Sie belastet und welche Beeinträchtigungen Sie dadurch im Alltag haben. Mehr möchte ich heute nicht wissen, das brauchen wir auch heute nicht zu vertiefen. Es geht heute in erster Linie darum, festzustellen, ob Sie hier bei mir richtig sind.“
Frau A. runzelt die Stirn und gibt an, sie habe doch eine Überweisung vom Hausarzt, auf der stände: mittelgradige Depression. Ich erkläre ihr, dass wir, sozialversicherungsrechtlich betrachtet, keine Überweisung benötigen. Seit Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes ist ein Direktzugang zur Psychotherapie möglich. „Ja, aber die Depression?“ fragt Frau A. etwas ungehalten. „Welche Depression?“, will ich wissen. „Mein Hausarzt meinte, ich hätte eine Depression. Deshalb ist mir alles zu viel. Und dass er mir nicht helfen kann. Ich brauche eine Psychotherapie.“
Im Rahmen der 100-minütigen Erstvorstellung in der psychotherapeutischen Sprechstunde exploriere ich auch Arbeitsbedingungen, Arbeitsverhalten, AU-Zeiten, Freizeitgestaltung, Medienkonsum, wie der letzte Urlaub verbracht wurde, wie ein üblicher Tagesablauf auf der Arbeit und zu Hause aussieht. Zusätzlich: was noch Spaß macht, was traurig macht, worauf sie sich freut und ob es überhaupt etwas gibt, worauf sie sich freuen kann. Frau A. beschreibt keinen Interessenverlust, keine anhaltend gedrückte Stimmungslage, keine Antriebsstörung (eher schlapp, da wenig Freizeit und viel im Haus und Garten zu erledigen ist). Aber Energie bzw. Kraft habe sie genug für die Erledigung von Gartenarbeit, um sich mit Freundinnen alle 2–3 Wochen zu treffen, für Yoga und Spaziergänge mit dem Hund.
Frau A. war auch in den letzten Wochen und Monaten nicht krankgeschrieben. Auch wenn es „zu viel wird“, geht sie zur Arbeit. Sie könne sich auch dort gut konzentrieren. Die Kollegen werden als nett beschrieben. Der Chef? „Manchmal anstrengend, aber ganz okay!“ Es liegt keine Gedächtnisbeeinträchtigung und auch sonst keine nachlassende kognitive Leistungsfähigkeit vor. Der Schlaf sei unauffällig. „Ich würde schon gerne etwas länger schlafen“, sie grinst dabei.
Ich kann keine Psychopathologie erkennen. Gleichzeitig kann ich aus normalpsychologischer Sicht nachvollziehen, dass es Frau A. in der Rush-Hour des Lebens auch alles zu viel sein kann. Ich konnte auch keine depressiv-gefärbten Kognitionen, Beeinträchtigung des Selbstwerterlebens oder Schuldgefühle feststellen. Frau A. sei auch nicht des Öfteren weinerlich. Sie müsste nur weinen, als sie in der Sitzung über sich, ihr Leben und „das Hamsterrad“ nachgedacht hat. Es sind keine somatoformen Störungen explorierbar; kein Drogen- und Alkoholkonsum. Alkohol vielleicht bei Festlichkeiten. „Mein Hausarzt meinte, ich soll einfach mit jemandem reden. Also, Gesprächstherapie halt. Keine Medikamente!“
Frau A. schaut mich etwas verärgert an, als ich ihr das Ergebnis der Exploration mitgeteilt habe. Dass ich keine Depression feststellen kann, kann sie nachvollziehen. Sie ist auch erleichtert, doch nicht depressiv zu sein. „Ganz ehrlich, ich hab schon gedacht, depressiv bin ich doch nicht. Aber der Hausarzt …“ Ich teile ihr mit, dass ich den Eindruck habe, dass sie trotz der mitgeteilten Erleichterung wegen des unauffälligen psychischen Befundes verärgert wirkt. „Ja, was heißt das jetzt? Ich brauche eine Gesprächstherapie!“ „Warum?“, frage ich. „Mit wem soll ich denn sonst über meine Belastungen reden und das alles? Mein Hausarzt …“ Ich muss sie wieder unterbrechen.
Was kann man denn Frau A. anbieten? Ist ihr Anliegen überhaupt Gegenstand der kassenfinanzierten Psychotherapie? Eine Krankenversicherungsleistung mit dem Ziel einer Krankenbehandlung oder der Linderung oder Heilung von seelischen Störungen mit Krankheitswert. Frau A. kann man nichts vorwerfen. Sie hat alles richtig gemacht: Bei Feststellung von subjektivem Leidensdruck ist sie zum Hausarzt gegangen. Dieser hat internistisch nichts Pathologisches feststellen können. Nach weiteren hausärztlichen Kontakten anlässlich desselben Beschwerdebildes konnte der ärztliche Kollege mit Hilfe seiner zur Verfügung stehenden fachlichen Möglichkeiten nichts Zielführendes anbieten. Er empfiehlt eine Psychotherapie. Leider fehlte auf dem Überweisungsschein das Wort „Abklärung“ – dies hätte Frau A. signalisieren können, dass noch keine Entscheidung gefallen ist, ob eine Psychotherapie nun das richtige Vorgehen für ihr Beschwerdebild ist.
Diese redaktionell veränderte Falldarstellung entspricht inhaltlich der Praxisrealität. Frau A. beschreibt eine normalpsychologische Reaktion; es handelt sich nicht um Symptomatik mit Krankheitswert. Keine psychosoziale Funktionsbeeinträchtigung und kein Beschwerdebild, was gemäß Vorgaben des §27 Abs. 1; §28 Abs.3 SBG V in Verbindung mit §1 Abs. 1 Satz 1; 5 und §2 Psychotherapie-Richtlinie zu einer Arbeitsunfähigkeit führt. Frau A. hat auch keine leichte Ausprägung eines regelwidrigen geistigen oder körperlichen Zustandes. Denn leichte Ausprägungen von psychischen Störungsbildern erfüllen zumindest die Kriterien der internationalen Klassifikationssysteme ICD oder DSM und qualifizieren sich formal-rechtlich für die Anerkennung der Krankheitswertigkeit. Diese wären somit auch Gegenstand von Heilbehandlungen zu Lasten der Krankenversicherung. Es handelt sich hier um eine subklinische Symptomdarstellung. Eine vermutete Prädisposition hinsichtlich affektiver Störungen kann hier eine Rolle spielen – allerdings wurden keine gesicherten Diagnosen in der familiären Aszendenz gestellt.
Frau A. benötigt eher ein Präventionsangebot. Primäre Prävention ist jedoch nicht Gegenstand der ambulanten Richtlinienpsychotherapie. § 20 Abs. 1 SGB V legt fest, dass Leistungen zur primären Prävention und zur Gesundheitsförderung von den Krankenkassen in der Satzung vorgesehen werden sollen – also Maßnahmen zur Verhinderung oder Verminderung von Krankheitsrisiken bei Gesunden. Bei „wirklich“ gesunden, also nicht bei „healthy ill“ – Personen. Bei Letzteren ist die Diskussion darüber, ob „Erkrankungsrisiko“ auch als „Krankheit“ geltend gemacht werden kann. Leistungen der primären Prävention gehören nicht zur Psychotherapie-Richtlinie, sondern fallen in den Bereich § 20 ff. SGB V – und damit nicht in die vertragsärztliche bzw. vertragspsychotherapeutische Behandlung bei bereits bestehenden psychischen Erkrankungen.
Frau A. berichtet von einer Freundin „mit der gleichen Geschichte“, die eine psychotherapeutische Behandlung erhalten habe. Es sei dahingestellt, ob die Freundin von Frau A. tatsächlich die „gleiche“ Geschichte hat. Wir kennen die individuelle Symptomdarstellung und die patientenbezogenen Indikationskriterien in dem Fall nicht. Trotzdem halte ich ihren Einwand für nachvollziehbar. Denn oft begegnen mir Menschen in der Sprechstunde mit prekären psychosozialen Lebenslagen und schmerzhaften Biografien. Menschen, die chronisch leiden und einen manifesten Leidensdruck haben. Ich will diesen Menschen helfen – aber wie und womit? Es sind nicht meine eigenen monetären Mittel, die ich zu meiner freien Verfügung habe, mit denen die ambulante Psychotherapie finanziert wird. Das sind die Kassenbeiträge der Solidargemeinschaft.
Meine Aufgabe als Psychotherapeut besteht unter anderem darin, eine sozialversicherungsrechtlich, psychotherapeutisch und medizin-ethisch fundierte Indikationsstellung vorzunehmen. Nicht nur für den einzelnen Menschen, der vor mir sitzt und seine Leidensgeschichte schildert im Blick haben – sondern auch die restliche Solidargemeinschaft. Denn bei knappen finanziellen und vor allem strukturellen Ressourcen sollte man gut wirtschaften! Das ist auch ein zentraler Aspekt im Krankenversicherungsrecht, der auch für die ambulante Psychotherapie gilt.
Hier helfen die WANZ-Kriterien:
Wirtschaftlich: Die Leistung wird mit einem möglichst geringen Aufwand an Kosten erbracht. Bei bestehenden Alternativen muss der Vertragspsychotherapeut die kostengünstigste Möglichkeit wählen. Stehen ihm bei einer bestimmten Indikation für eine als notwendig erkannte Behandlung mehrere gleich wirksame und dem Patienten zuträgliche Alternativen zur Verfügung, soll der Vertragspsychotherapeut die „kostengünstigste“ Möglichkeit wählen. Ein Mehr an diagnostischem oder therapeutischem Aufwand ist nur dann wirtschaftlich, wenn dem auch ein Mehr an Nutzen und Erfolg gegenübersteht.
Ausreichend: Die Intensität der Behandlung entspricht der Art und Schwere der Krankheit und berücksichtigt den Stand der medizinischen Erkenntnisse.
Notwendig: Dies betrifft alles, worauf die Vertragspsychotherapeutin bei der Behandlung eines Patienten nicht verzichten darf, damit diese ausreichend ist.
Zweckmäßig: Die Leistung ist geeignet, im Rahmen der anerkannten diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten den angestrebten Heilerfolg zu erzielen. Fehlt es also an der Qualität oder Wirksamkeit der Behandlungsmethode oder wird der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse nicht berücksichtigt, ist die Behandlung nicht ausreichend und auch nicht zweckmäßig. Hier geht es also zum Beispiel um die sogenannte evidenzbasierte Medizin.
Dass die Freundin von Frau A. trotz nicht formal vorliegender Indikation eine psychotherapeutische Behandlung erhält, kann auch aus einem Mangel an Alternativen heraus resultieren: Psychotherapie wird mitunter auch empfohlen, weil Akteure im Gesundheitswesen sich nicht mehr zu helfen wissen. Auch die gesellschaftliche Fehlwahrnehmung psychotherapeutischen Handelns als eine Heilbehandlung trägt dazu bei, dass nicht wenige Hilfesuchende eine Psychotherapie anstreben, „um mit jemandem zu reden“.
Zunehmend wird auch Psychotherapie als Standard vorgeschlagen. Als Automatismus in zivilrechtlich- und strafrechtlich-prozessualen Zusammenhängen nach Trennungen und Scheidungen, bei familienrechtlichen Konfliktlagen für die betroffenen Kinder (Sorge- und Umgangsrechtstreitigkeiten), zu Beginn einer Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahren bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, bei asylrechtlichen Verfahren, bei Gewaltschutzverfahren (die Beschuldigtenseite) und auch bei rentenrechtlichen Verfahren im Zuge der Beantragung einer Erwerbsminderungsrente aufgrund von geltend gemachter psychischer Belastung.
Die Psychotherapie soll nicht als Kompensationsleistung für fehlende Prävention im ambulanten Versorgungssektor herhalten. Somit besteht die Lösung für die Versorgungskrise im Bereich der seelischen Gesundheit nicht (oder nicht nur) in mehr Kassensitzen. Wir benötigen mehr differenzierte und sozialversicherungsrechtlich-getragene, ambulante Präventionsangebote – gerne auch umgesetzt von approbierten Psychotherapeuten.
Der Umgang mit psychischer Belastung und mit manifesten psychischen Erkrankungen – vor allem die Prävention davon – soll als gesellschaftliche Aufgabe erachtet werden und nicht ausschließlich als Angelegenheit des Gesundheitswesens. Frau A. habe ich eine Präventionsmaßnahme der Rentenversicherung empfohlen. Diese kann sie ohne eine psychiatrische Diagnose durchführen – und benötigt hierfür weder den Hausarzt noch einen Psychotherapeuten.
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