Ein Täter, der sich kaum an seinen Namen erinnert und Verkehrsdelikte einer Frau, die ihr eigenes Verhalten nicht versteht. Gehören solche Fälle vor Gericht – und wie geht man überhaupt mit unbeabsichtigter Kriminalität um?
Demenz zeigt sich nicht nur mit Gedächtnisverlust. Manchmal verändern sich Persönlichkeit und Verhalten so stark, dass es sogar zu kriminellen Handlungen kommt: Tempolimit überschreiten, fremde Leute beleidigen oder im Laden klauen – hinter diesen Dingen muss nicht immer ein schlechter Charakter stehen. Es könnte sich auch um Frühsymptome einer Demenz handeln. Neben den Gedächtnisproblemen können bei einer Demenzerkrankung verschiedene andere Symptome auftreten. Unter anderem können sich Verhaltensweisen und Persönlichkeit eines Menschen verändern: Ein normalerweise freundlicher und höflicher Mensch kann plötzlich regelmäßig wilde Schimpftiraden loslassen. Ein besonnener Autofahrer wird zum Straßenrowdy – und ein gesetzestreuer Bürger lässt etwas im Laden mitgehen.
Einer Demenz zugrunde liegt die Neurodegeneration – ein Untergang von Nervenzellen im Gehirn. Je nach Demenzform sind von der Neurodegeneration unterschiedliche Bereiche des Gehirns betroffen. Entsprechend unterscheiden sich die typischen Symptome: Bei Alzheimer ist es vorwiegend der Temporallappen mit dem Hippocampus, einem wichtigen Gedächtniszentrum. Bei der frontotemporalen Demenz ist, wie der Name sagt, neben dem Temporallappen auch der Frontallappen betroffen. Deshalb kommt es häufig früh zu Verhaltensauffälligkeiten. Bei der vaskulären Demenz schließlich können verschiedene Hirnbereiche betroffen sein, mit entsprechend vielfältiger Symptomatik.
Die Unterschiede in den betroffenen Hirnregionen beeinflussen die Häufigkeit von kriminellem Verhalten bei den verschiedenen Demenzformen. Eine aktuelle Übersichtsarbeit mit dem passenden Namen „Criminal minds in dementia” ergab, dass bei einer frontotemporalen Demenz in mehr als der Hälfte der Fälle kriminelles Verhalten auftritt. Auch bei der primären progressiven Aphasie, einer Demenzform mit frühem Verlust des Sprachverständnisses, kommt kriminelles Verhalten bei 40 Prozent vor. Deutlich seltener betroffen sind Alzheimer-Patienten (10 Prozent). Patienten mit Parkinson werden sogar noch etwas seltener kriminell (<10 Prozent). Auch das Geschlecht macht einen Unterschied: Männer zeigen über die Demenzformen hinweg häufiger kriminelles Verhalten als Frauen.
Bei der frontotemporalen Demenz ist kriminelles Verhalten besonders charakteristisch. Dies wird mit spezifischen Hirnveränderungen in Verbindung gebracht, die in erster Linie die Hirnrinde des linken Temporallappens betreffen. Durch eine Schädigung dieses Bereichs kann es zu einer Enthemmung kommen, bei der die Kontrolle über Impulse und Emotionen wegfällt. Mittels funktionellem MRT wurde in einer aktuellen Studie nachgewiesen, dass bei frontotemporaler Demenz die hemmenden Verbindungen des linken Temporallappens zu anderen Hirnregionen aufgehoben sind.
Diese Verbindungen waren bei den Patienten mit kriminellem Verhalten besonders abgeschwächt. Die fehlende Kontrolle durch den linken Temporallappen scheint also dem kriminellen Verhalten zugrunde zu liegen. Aber nicht nur bei der frontotemporalen Demenz kommt kriminelles Verhalten vor. Es kann – bei unterschiedlicher Häufigkeit – Teil der Symptomatik jeder Demenzform sein. Damit wird es zu einem häufigen, belastenden und relevanten Problem – und ist dennoch wenig bekannt.
Von einer Demenzerkrankung sind sehr viele Menschen betroffen. Durch den demographischen Wandel ist mit einem weiteren Anstieg der Fallzahlen zu rechnen. Alzheimer ist dabei mit Abstand die häufigste Demenzform. Auch wenn kriminelles Verhalten nur bei etwa jedem zehnten Alzheimer-Patienten auftritt, ergibt sich eine erhebliche Zahl Betroffener: Bei geschätzt 1,8 Millionen Alzheimer-Patienten in Deutschland ist von fast 200.000 Menschen mit kriminellem Verhalten auszugehen – hinzu kommen Erkrankte mit anderen Demenzformen. Möglicherweise ist das Phänomen sogar noch deutlich häufiger, da die meisten Studien auf retrospektiven Befragungen beruhen und somit nicht alle Fälle erfasst werden. Eines lässt sich jedoch mit Sicherheit feststellen: Selten ist das Phänomen nicht.
Vor allem im frühen Stadium einer Demenz ist das Risiko für kriminelles Verhalten im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung deutlich erhöht. Es kann sogar die erste Auffälligkeit sein, mit der sich die Demenzerkrankung äußert. Schreitet die Demenz weiter voran, wird kriminelles Verhalten wieder seltener. Im Spätstadium der Demenz ist kriminelles Verhalten sogar seltener als in der Durchschnittsbevölkerung. Durch den Verlust wichtiger Alltagsfähigkeiten ist auch kriminelles Verhalten immer weniger möglich.
Wenn Menschen mit Demenz kriminell handeln oder soziale Normen missachten, ist das für die Betroffenen und vor allem für ihre Angehörigen oft schwer auszuhalten – manchmal sogar belastender als die Gedächtnisverluste selbst. Ein Beispiel dafür ist ein Ehemann und Vater, der infolge seiner Alzheimer-Erkrankung aggressiv wird und dessen Familie darunter zutiefst leidet (hier in einer persönlichen Geschichte geschildert). Außenstehende erkennen solches Verhalten häufig nicht als Krankheitssymptom, sodass zusätzlich soziale Probleme entstehen. Umso wichtiger ist es, diese Symptome besser zu verstehen und sie in der Öffentlichkeit bekannter zu machen – nur so können Betroffene und Angehörige entlastet werden.
Matthias Schröter, Erstautor der Übersichtsarbeit „Criminal minds in dementia“, fasst in der Pressemitteilung zur Veröffentlichung zusammen: „Sensibilität für dieses Thema als mögliche Frühsymptome einer Demenz sowie eine frühzeitige Diagnose und Behandlung sind von größter Bedeutung. Neben der frühzeitigen Diagnose und Behandlung der Betroffenen muss auch über Anpassungen des Rechtssystems diskutiert werden, wie beispielsweise die Sensibilisierung für Straftaten aufgrund dieser Erkrankungen und die Berücksichtigung der Erkrankungen bei der Verhängung von Strafen und im Strafvollzug“.
Im Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten bei Demenzerkrankten werden zunächst nichtmedikamentöse Maßnahmen empfohlen. Vor allem die Aufklärung und Unterstützung der pflegenden Angehörigen kann die Auswirkungen der Symptome abmildern. Medikamentöse Therapieoptionen sind zweite Wahl: Hier kommen Antipsychotika und Antidepressiva zur Anwendung.
Kriminelles Verhalten im Rahmen einer Demenz mag auf den ersten Blick verstörend wirken – doch es ist kein Ausdruck von Bosheit, sondern von Krankheit. Je mehr wir darüber wissen, desto besser können wir Betroffene verstehen, Angehörige unterstützen und Fehlurteile vermeiden. Die Herausforderung wird in den kommenden Jahren eher wachsen als kleiner werden. Umso wichtiger ist es also, das Thema offen anzusprechen. Nur so kann aus dem Stigma ein Stück mehr Verständnis werden.
Schroeter et al.: Criminal minds in dementia: A systematic review and quantitative meta-analysis. Transl Psychiatry, 2025. doi: 10.1038/s41398-025-03523-z
Mueller et al.: Criminal Behavior in Frontotemporal Dementia: A Multimodal MRI Study. Hum Brain Mapp, 2025. doi: 10.1002/hbm.70308
Reuben et al.: Dementia Prevention and Treatment: A Narrative Review. JAMA Intern Med, 2024. doi: 10.1001/jamainternmed.2023.8522
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