Die Angehörige
Kühl ist der Morgen, der auf das reinigende Sommergewitter folgt. Endlich wurde die Schwüle weggewaschen, der Staub von den Dächern. Es ist fünf Uhr früh. Die meisten Menschen schlafen noch – erschöpft, aber friedlich. Endlich wieder eine Nacht, in der an Schlaf zu denken war. Für die meisten. Nicht für Herrn K. Und nicht für seine Frau. Ein lauter Mann wird stillDenn Herr K. ist dement. So dement, dass er weder seine Frau noch die beiden Töchter erkennt, auch nicht seine drei Enkel, die inzwischen schon vergessen haben, wie seine Stimme klingt, oder sein Lachen. Dabei ist Herr K. noch gar nicht so alt, erst Mitte 70, doch hat die Alzheimer-Krankheit bereits vor über 10 Jahren damit begonnen, sein Hirn zu vernebeln. Er, der früher als Turmspringer und Radfahrer Sportler war, der in Vereinen aktiv war und auch nach dem Beginn seiner Rente geistig aktiv blieb. Er, der nie einem Streit aus dem Weg ging und die meisten Kontrahenten in Grund und Boden argumentierte, ist jetzt still. Ab und zu schimpft er zusammenhanglos vor sich hin, wenn die Enkel wieder mal zu laut spielen oder mit den Türen knallen. Ansonsten ist er still geworden. Ruhe hat er indes nicht gefunden, denn er wandert ständig durch das Haus. Tag und Nacht. In letzter Zeit fällt er oft und seine Frau schafft es nicht, ihn wieder hochzuheben, wenn er am Boden liegt – sprichwörtlich wie buchstäblich. Sie hat nun einen Hausnotrufknopf, der manchmal täglich gedrückt werden muss, ganz besonders nachts, wenn Herr K. sich wieder auf eine seiner ruhelosen Wanderungen begeben will und dabei aus dem Bett fällt. Butter in der Schublade, Schläge im BadezimmerSeine Frau merkt das schnell, denn sie schläft seit Monaten kaum mehr als 2 Stunden am Stück. Sie ist gefordert, wenn er wieder an der Haustüre rüttelt und nach draußen möchte, wenn er ein Geschirrhandtuch in den Toaster steckt, die Butter in die Besteckschublade drückt oder sie zum dritten Mal in der Nacht die Bettwäsche wechseln muss. Auch die Körperpflege ist schwierig, denn Herr K. ist harn- und stuhlinkontinent. Das Wechseln der Pants und das Duschen gestaltet sich schwierig. Man muss vorsichtig sein, denn er versucht dabei, zu schlagen, zu kratzen und zu beißen. Nicht nur seine Ehefrau, sondern auch die Pflegerinnen, die 2 x in der Woche für eine Stunde kommen und versuchen, ihn unter die Dusche zu zwingen. Man fragt sich jetzt vielleicht, warum seine Frau sich das antut, warum sie seit 8 Jahren nicht mehr unbeschwert das Haus verlassen kann. Warum ist er nicht in einem Pflegeheim, wo sich andere um ihn kümmern können, die gelernt haben, mit einem solchen Verhalten professionell umzugehen? Die Antwort darauf ist leider schnell gegeben, denn er steht zwar seit über einem Jahr auf den Listen von über 20 Heimen in der Umgebung, doch diese wollen sich nicht mit ihm belasten. Die Wahrheit ist bitterDement, weglaufgefährdet, inkontinent und aggressiv. Irgendwie auch verständlich, dass man das Personal nicht mit einem solchen Problemfall konfrontieren möchte. Es fehlt ja ohnehin schon überall an ausgebildeten Kräften und man hat schlicht keine Zeit, ihm den ganzen Tag jemanden zur Seite zu stellen. Er ist nicht einfach, das war er nie. Und das hat sich im Laufe seiner Erkrankung nicht verändert. Herr K. ist schwierig. Er kostet Nerven. Er ist übergriffig. Er erscheint den Heimleitungen als nicht zumutbar. Das ist die bittere Wahrheit. Auf der Strecke bleibt seine Ehefrau, die in den letzten zwei Jahren um Jahrzehnte gealtert erscheint, eine lebensfrohe Frau, die jetzt oft und viel weint, die keinen Lichtstreifen am Horizont mehr sieht und sich im Grunde nur wünscht, dass das alles aufhört – egal wie. Die Frau, die ihr Leben lang so viel Geduld hatte, die ruhig blieb, wo jeder andere verzweifelt wäre. Ist ihr noch zu helfen, bevor es zu spät ist? Falls ihr euch fragt, woher ich das alles so genau weiß und ob das alles so stimmt: Herr K. ist mein Vater. Und ich weiß: Nicht er ist unzumutbar. Sondern das System, das so viele wie ihn allein lässt. Und alle, die sie pflegen. |