Auch für den erfahrensten Schwimmer kann das Wasser zur Bedrohung werden. Wie ein Notfalleinsatz am See zu einem Wettlauf gegen die Zeit wird – und wie ihr die Nase vorn behaltet.
Barfuß tritt er ins Wasser, als gehöre ihm die ganze Bucht. Das Nachmittagslicht flirrt auf der Oberfläche und bricht sich an kleinen Wellen. Sie schlagen gegen seine Schienbeine. Hinter ihm ruft seine Freundin einen letzten Scherz, als würde sie ihn mit Lachen zurückholen wollen – doch der Mann schwimmt mit kräftigen Zügen hinaus, das Wasser kühl und samtig um seinen Körper.
Der See liegt wie ein Spiegel in der Sommerhitze. Libellen schweben, als balancierten sie auf den Flügeln der Zeit. Am Ufer spielt ein Kind mit einem roten Eimer, irgendwo dröhnt Musik aus einem tragbaren Lautsprecher, das Leben ist nichts als eine breite, flache Linie auf einem Monitor. In der Mitte des Sees, wo das Wasser dunkler wird und das Echo der Stimmen verstummt, passiert es. Zuerst sieht es aus wie ein Fehltritt, dann ein Stolpern – doch da ist nichts, worüber man stolpern konnte. Ein Moment der Verwirrung, ein fahriges Rudern mit den Armen. Vielleicht, so hofft seine Freundin, ist es nur ein Scherz, das alberne Untertauchen, ein Spiel mit der Angst. Doch dann kommt kein Lachen mehr.
Der Kopf geht unter, kommt wieder hoch, angstverzerrt. Das Gesicht verliert jede Farbe, als würde das Wasser ihm das Leben entziehen. Er schlägt um sich, versucht, sich an einer unsichtbaren Stange über Wasser zu halten. Aber es misslingt. Die Freundin springt ihm hinterher, schwimmt wie gegen einen Sog aus Kälte und Stille, und schafft es mit fast unmenschlicher Kraft, den Mann über Wasser zu halten. Ein Blick an das entfernte Ufer, Hände, die winken, Rufe, in der Sommerluft zerrissen. Endlich nimmt jemand ein Handy zur Hand und wählt den Notruf. Und irgendwo in der Ferne gehen in einer Rettungswache alle Alarmempfänger.
Die Räder unseres Rettungswagens rollen über den langen, schmalen Feldweg, der sich wie ein sonnenheller Faden durch das hohe Gras schlängelt. Immer mal geht ein Badegast einfach nicht aus dem Weg. Mein Kollege Marco drückt den Bruchteil einer Sekunde lang auf das Bullhorn, und derjenige springt wie von einer Abrissbirne getroffen zur Seite. Mein Mitleid hält sich in Grenzen. Am Ufer versammeln sich die Menschen im Halbkreis, als wären sie Zeugen eines uralten Dramas, das immer wiederkehrt: das Ringen des Menschen mit dem Wasser. Viele hocken auf Handtüchern, verstummt, mit weiten Augen, als hätte das Geschehen ihnen die Sprache genommen. Ein Vater presst sein Kind an sich, dessen roter Eimer vergessen im Sand liegt. Aus der Ferne tönt bedeutungslose Musik.
Die Kollegen von der Wasserwacht knien bereits am Seeufer. Hastig beugen sie sich über den kämpfenden Körper. Gerade beginnen sie, den Sauerstoff anzulegen – die Maske zittert vor Anspannung in der Hand des jungen Helfers. Ich bemerke, wie sein Blick nach Halt sucht. Der Patient sitzt im Schneidersitz am Ufer auf seinem Handtuch, als hätte das Wasser ihn einfach ausgespuckt, die Arme stützen seinen Körper ab. Die Haut spannt sich blass über die Wangen, die Lippen sind blau wie Kornblumen am Feldrand. Sein Brustkorb hebt und senkt sich viel zu schnell, jeder Atemzug ein hechelndes Ringen nach Luft, keuchend, als wolle er mit aller Gewalt etwas Unsichtbares aus seinen Lungen vertreiben. In den Augen der Freundin steht nacktes Entsetzen, ihr nasses Haar klebt an den Schläfen, ihre Hände sind rastlos. Sie steht direkt neben ihm – und realisiert noch nicht, dass sie ihm gerade das Leben gerettet hat.
Ich rieche das Seegras und spüre das Prickeln des Adrenalins unter der Haut, während ich mir Handschuhe überstreife. Ich nehme die Menge ringsum wahr: Sonnenbrillen, gebräunte Gesichter, Mütter, die sich die Hände vor den Mund halten. Und mittendrin, halb verborgen hinter einer Gruppe Jugendlicher, erblicke ich eine Krankenschwester, die ich aus einer Notaufnahme kenne. Sie nickt mir zu. Für einen Moment hängt alles in der heißen, bewegungslosen Luft: die Angst des Patienten, die Sorge seiner Freundin und das Hoffen, dass wir das Blatt wenden können. Dann beginnt unser Teil – und der Rhythmus des Dramas nimmt Fahrt auf.
Kurze Zeit später trifft die Notärztin ein. Ich habe sie lange nicht mehr gesehen, aber mit ihr habe ich vor etlichen Jahren einen jungen sportlichen Radrennfahrer reanimiert, der auf offener Straße kollabiert war. Zwei Karten für den Sommernachtstraum fielen ihm aus der Tasche und machten den Einsatz für alle Beteiligten auf perfide Art und Weise unvergesslich (wer jetzt neugierig geworden ist, kann ihn hier nachlesen). Wir bringen den beinahe Ertrunkenen in den Rettungswagen. Die Atmung erholt sich nicht. Trotz der 15 Liter Sauerstoff krebst der Mann bei einer Sättigung von 88 oder auch mal 89 Prozent herum. Wir tauschen Blicke, und allen ist klar: Der Mann muss nichtinvasiv beatmet werden.
Nachdem alles getan ist, kann man nur hoffen
Wir beginnen mit folgenden Parametern:
Der Patient toleriert es jedoch nicht zufriedenstellend. Wir korrigieren daher auf:
Und für einen Moment halten wir im Rettungswagen inne. Der Monitor zeigt 99 Prozent, das Brodeln in den Lungen verebbt. Der Mann greift wieder nach dem Leben, wird rosig. Die Herzfrequenz sinkt auf 110, die Atemfrequenz geht runter auf 17 pro Minute. Draußen vor dem Fenster flirrt die Welt weiter – Menschen, Stimmen, der rote Eimer im Sand. Ich sehe die Freundin neben dem RTW, wie sie mit zitternden Händen eine Strähne aus dem Gesicht streicht, die Schultern sacken ab, ein Lächeln, das mehr ein Zittern ist, huscht über ihr Gesicht. Dann machen wir uns auf den Weg in die nächste Klinik. Die Fahrt durch die sommerhelle Landschaft hat etwas Surreales – draußen läuft das Leben weiter, als sei nichts geschehen.
Am Krankenhaus wartet bereits das Team im Schockraum, das den Patienten nahtlos und routiniert übernimmt. Für einen kurzen Moment verweile ich noch in der Tür, sehe das Licht, das durch das geöffnete Fenster auf das weiße Linoleum fällt, höre das gleichmäßige Summen der Monitore und weiß: Der Mann wird leben.
Quellen
Deutscher Rat für Wiederbelebung – German Resuscitation Council e.V., 2021. online
Truhlář et al.: European Resuscitation Council Guidelines for Resuscitation 2015. Resuscitation, 2015. doi: 10.1016/j.resuscitation.2015.07.017
Schramm et al.: Der Ertrinkungsunfall: Begriffe, Maßnahmen, Reanimation. Rettungsdienst, 2017.
Luxem: "Thermische Notfälle" in "Rettungsdienst RS/RH". Elvesier, 2010. ISBN 978-3-437-48041-6
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