Martin wird ohne Vorwarnung aus dem Leben gerissen. Jetzt liegt er reglos vor mir. Neben ihm: zwei Tickets für den Sommernachtstraum. Ich kann mir nur vorstellen, welches Leben er zurücklässt.
Ich presse meine Hände auf seinen Brustkorb, zähle laut. Schweiß läuft in meine Augen. „Achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig …“ Die Rippen geben nach. Ein Knacken. Der Körper ist schwer, leblos, nur der Widerstand der Knochen erinnert mich daran, dass hier noch ein Mensch ist. Marlene beatmet, die Notärztin kniet neben mir und schiebt die Nadel in den Unterarm. Wir sind ein eingespieltes Team. Die Venüle sitzt, dann Adrenalin, irgendwann endlich Kammerflimmern. Alles ist ein Takt, ein Kreisen, ein Beschwören des Lebens gegen die Dunkelheit.
Dann der Druck auf die Taste zum Hochladen, das LP 15 alarmiert zur Stromabgabe. „Okay, weg vom Patienten – Schock in drei, zwei, eins …“, ich drücke auf die kreisrunde rote Taste mit dem weißen Blitz. Die Muskulatur depolarisiert augenblicklich, der Impuls zuckt durch den leblosen Körper. Marlene kniet sich über den Mann und drückt den Thorax im Takt von „Stayin' Alive“ weiter ein. Auf dem Monitor sehe ich nur eine oszillierende Linie, grün auf schwarz. Nur die Spikes von Marlenes Herzdruckmassage erzeugen den Eindruck, als wäre da noch was.
Der Mann hat ein kantiges Gesicht, bartlos, seine Haut fahl, die Lippen bläulich. Das Leben ist schon dabei, aus ihm herauszufließen. Er ist deutlich unter fünfzig, sehr sportlich, muskulös. Das Bild passt überhaupt nicht zu dieser Situation, die kafkaesk scheint. Während ich nach Hinweisen auf die Ursache für den Herzstillstand suche, fallen zwei Karten für den Sommernachtstraum aus seiner Jacke. Sie bleiben neben ihm liegen – stille Zeugen eines Lebens, das plötzlich auf Messers Schneide steht. Frisch gekauft, für ein Erlebnis aus Licht und Musik, vielleicht ein erstes Mal, vielleicht ein jährliches Ritual.
Irgendwo wartet vielleicht eine Frau. Vielleicht hat sie den Tisch gedeckt, vielleicht probt sie schon, wie sie ihn heute Abend unter dem freien Himmel des Tollwood-Festivals ansehen wird. Sie wartet auf ihn – nichtsahnend, dass er im Gras liegt und wir um sein Leben kämpfen. Meine Gedanken schweifen ab in Räume, in denen Worte nicht mehr reichen. Wie viele Male habe ich ein Leben gesehen, das einfach endet? Immer wieder trifft mich die gleiche Erkenntnis: Das Leben ist ein Seiltanz über Abgründen, und jeder Tag ist ein Geschenk.
Wir verlieren ihn. Die Stimmen um mich herum verblassen. Ich sehe die Tickets im Staub und stelle mir vor, dass später irgendwo ein Telefon oder eine Türglocke klingeln, ein Glas auf den Boden fallen, ein Herz brechen wird. Im EKG sehen wir bisher nichts mehr, das auf Adrenalin anspricht. Jeder von uns weiß, was das bedeutet – vermutlich ein Totalverschluss, alle großen Herzkranzgefäße dicht. Keine Chance, kein Blutfluss, kein Weg zurück. So schnell kann’s gehen. Keine Technik der Welt kann öffnen, was hier verschlossen ist.
Die Notärztin blickt mich an, ein winziges Kopfschütteln, ihre Lippen schmal. „Wir hören auf. Zeitpunkt des Todes: 16 Uhr 53.“ In ihren Worten liegt das Gewicht der Endgültigkeit. Ich lasse von ihm ab. Die Sonne sticht, doch der Asphalt fühlt sich plötzlich kühl an. Der Mann liegt da noch immer, als hätte er nur kurz ausruhen wollen. Die Tickets schimmern neben seiner Hand, verheißungsvoll und viel zu leicht im Kontrast zu all dem Gewicht, das sich jetzt über alles legen wird. Wir schweigen, jeder mit seinem eigenen Echo des Scheiterns im Kopf. Ich greife die Tickets und fühle das dünne, glatte Papier zwischen meinen Fingern. Irgendwo zählt jetzt jemand die Minuten und glaubt noch an die Unversehrtheit der Welt. Während die Notärztin mit den gerade angekommenen Polizisten spricht, denke ich an sie – die Frau, die noch nicht weiß, dass alles vorbei ist. Ich stelle mir vor, wie sie nach ihm suchen wird, nach seiner Hand, nach seinem Lachen, nach den Geschichten, die sie sich heute Abend erzählen wollten. Ein leises Lachen, für später aufgehoben. Doch später kommt nicht mehr.
Das Leben reißt ohne Warnung, ohne Sinn und ohne Feind. Und wir können nichts tun, als zurückzulassen, was wir nicht zu retten vermochten. Das Leben ist nur ein fragiles Versprechen und ich spüre, wie mich dieses Bewusstsein erschlägt – und auch befreit. Es gibt keinen Schuldigen, nur das, was ist. Und wir sind keine Götter, nur Wächter an der Schwelle. In mir bleibt das Bild dieser beiden Karten: ein Symbol für alles, was zerbrechen kann, für alles, was wir verschieben, für alles, was wir lieben oder vermissen, ohne es zu wissen.
Die Tür des Rettungswagens fällt zu und draußen gleitet die Welt in Richtung Abend, als wäre nichts geschehen. Lichter schwimmen durch die Scheiben, zuckende Spiegelungen in pastellfarbener Trauer. Die Zeit rinnt wie feiner Sand zwischen allem, was wir versuchen festzuhalten. Ich spüre, wie das Leben gleichzeitig so leicht und so schwer an mir vorbeizieht – immer schon auf dem Sprung ins Unerreichbare. Aber ganz am Ende bleibt nur die Stille. Und das Wissen, dass jeder einzelne Augenblick zählt.
Bildquelle: Klemen Vrankar, Unsplash