Bis zu 90 Prozent aller Angaben zu Penicillin-Allergien sind falsch – mit fatalen Folgen: Ärzte verordnen riskantere, teurere Wirkstoffe. Wie wir besser erfassen, wer wirklich allergisch ist.
Schon wieder ein Patient mit Penicillin-Allergie: Solche Hinweise im Gespräch oder in der Patientenakte lassen alle Alarmglocken läuten – als wäre der Einsatz des Antibiotikums für immer tabu. Doch die Realität sieht anders aus: Weniger als zehn Prozent aller Menschen mit diesem Label haben tatsächlich eine Penicillin-Allergie, schreiben britische Forscher in The Lancet. Eine ältere Metaanalyse zeigt, dass rund 94 Prozent eine Provokationsdosis des Antibiotikums problemlos vertragen haben.
Wie kann das sein? Oft verbergen sich hinter der vermeintlichen Penicillin-Allergie unspezifische Hautreaktionen im Rahmen eines Infekts, harmlose Nebenwirkungen wie gastrointestinale Beschwerden oder Ereignisse, die Jahre zurückliegen und sich nicht mehr einordnen lassen. Hinzu kommt, dass IgE-vermittelte Allergien im Laufe der Zeit auch wieder verschwinden können. Dennoch tragen viele Patienten ihr Leben lang fälschlich das Kainsmal einer Penicillin-Allergie, sehr zu ihrem Nachteil.
Sie erhalten bei bakteriellen Infektionen Alternativen wie Makrolide, Cephalosporine oder Tetrazykline. Die Wirkstoffe sind nicht nur teurer. Manche fördern auch die Entstehung von Resistenzen, falls sie ein breites Spektrum an Erregern bekämpfen. Zudem steigt die Gefahr therapieassoziierter Komplikationen. Mit der ALABAMA-Studie (ALlergy AntiBiotics And Microbial resistAnce) zeigen Forscher erstmals, wie es Hausärzten gelingen kann, Personen zu erkennen, die ein falsches Label tragen.
Forscher verglichen bei dieser bislang größten randomisierten Studie zu diesem Thema ein standardisiertes Allergie-Assessment mit der üblichen Versorgung. Sie haben 823 Patienten aus 51 Hausarztpraxen Großbritanniens eingeschlossen. Die Teilnehmer wurden 1:1 randomisiert in eine Gruppe mit Bewertung der Penicillin-Allergie und eine Kontrollgruppe. Der Weg zum möglichen Delabeling startete mit der Anamnese – unabhängig von geplanten Antibiotika-Verordnungen. Dabei haben Ärzte versucht, die ursprüngliche Reaktion genau zu rekonstruieren: Wann trat sie auf, welche Symptome zeigten sich und wie schwer war der Verlauf? Auf diese Weise ist es ihnen gelungen, Patienten mit hohem Risiko, etwa mit dokumentierter Anaphylaxie oder schweren kutanen Reaktionen, von vornherein ausschließen.
Es folgte die eigentliche Testung, die sich am individuellen Risikoprofil orientiert. Möglich waren Hauttests, orale Provokationen – meist mit Amoxicillin – oder eine direkte orale Gabe. Bei den meisten Betroffenen mit niedrigem Risiko genügte bereits ein kontrollierter oraler Provokationstest, um Klarheit zu schaffen. Ältere Arbeiten hatten gezeigt, dass bei erwachsenen Patienten mit geringem Risiko die direkte orale Penicillin-Provokation sicher und wirksam ist. Nach dem Test war eine kurze Beobachtungsphase notwendig, in der verzögerte Reaktionen erfasst wurden.
Den entscheidenden Unterschied für die Versorgung macht jedoch die konsequente Dokumentation: Nur wenn das negative Testergebnis zuverlässig in der elektronischen Patientenakte eingetragen wird, ist die Information für alle künftigen Arztbesuche wertvoll. Patienten sollten aber auch verstehen, warum bei ihnen nun doch Penicillin-Verordnungen möglich sind.
Ein Blick auf die Details: 365 (91 %) von 401 Teilnehmern in der Gruppe mit vermeintlicher Penicillin-Allergie und mit Bewertung wurden getestet. Von ihnen erhielten 234 (64 %) einen direkten oralen Provokationstest (13 davon mit positivem Ergebnis), 131 (36 %) einen Hauttest (3 waren positiv) und 128 (35 %) nach dem Hauttest zusätzlich einen oralen Provokationstest (14 waren positiv).
Insgesamt fanden die Ärzte bei 30 (8 %) der 365 getesteten Teilnehmer ein positives Ergebnis (entweder beim Hauttest oder beim oralen Provokationstest), während 335 (92 %) negativ getestet wurden. Drei Monate nach der Randomisierung waren 276 (76 %) der 365 Teilnehmer in der Bewertungsgruppe von ihrem Allergielabel befreit („delabeled“), nach zwölf Monaten waren es 321 (88 %). Schwere Nebenwirkungen traten extrem selten auf, lebensbedrohliche oder tödliche Ereignisse kamen nicht vor. Die Strategie war ökonomisch zumindest kostenneutral, mit einem Trend zu geringeren Ausgaben. Damit konnte erstmals in einer randomisierten Studie belegt werden, dass ein strukturiertes Delabeling beim Hausarzt nicht nur sicher und effektiv, sondern auch praxistauglich ist.
Solche Ansätze kommen nicht nur – wie bei dieser Studie – aus Großbritannien. Ein Forschungsteam der Universitäts-Hautklinik Heidelberg hat den Nutzen des PEN-FAST-Scores bewertet. Ihre Ergebnisse haben sie bei der Jahrestagung der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG) 2025 vorgestellt.
Der PEN-FAST-Score ist ein Instrument, das Ärzten dabei hilft, grob einzuschätzen, wie wahrscheinlich eine von Patienten angegebene Penicillin-Allergie vorhanden ist:
Je niedriger der Score, desto geringer ist das Risiko einer echten Penicillin-Allergie.
Für die Studie haben Ärzte zwischen 2004 und 2024 insgesamt 189 Patienten einer retrospektiven Kohorte untersucht. Bei 149 von ihnen kam die klassische Allergiediagnostik zum Einsatz, also mit Pricktests, Patchtests bzw. Provokationstests. In diesem Rahmen konnten 99 Personen erfolgreich delabelt werden. Auch in einer prospektiven PEN-FAST-Kohorte bestätigte sich die Aussagekraft des Scores: Von 40 untersuchten Personen zeigte lediglich ein Patient eine milde Sofortreaktion.
Die Ergebnisse zeigen, dass PEN-FAST im direkten Vergleich zur etablierten Diagnostik eine vergleichbare Sicherheit bietet. So lag der negative prädiktive Wert des Scores bei knapp 96 %, während Hauttests und spezifisches IgE jeweils etwa 95 % erreichten. Für die Praxis bedeutet das: Niedrigrisiko-Patienten laut PEN-FAST könnten direkt oral getestet und von ihrer vermeintlichen Penicillin-Allergie befreit werden. Zusätzliche Hauttests sind in vielen Fällen nicht notwendig.
Das Wichtigste auf einen Blick
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