KOMMENTAR | Mein Artikel zu ME/CFS wurde heiß diskutiert. Das ist richtig und wichtig – denn durch Feedback entsteht wertvoller Austausch. Einige Kritikpunkte möchte ich allerdings nicht unkommentiert lassen.
Vor kurzem hat DocCheck meinen Artikel zur Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) zur Erkrankung Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrom (ME/CFS) veröffentlicht (hier). Die Resonanz war gewaltig: über 100 Kommentare und mehr als 70 Bewertungen – im Schnitt nur 2,4 von 5 Sternen. Viele der Kommentare setzten sich kritisch mit dem Artikel auseinander.
Aber ist das wirklich ein Problem? Oder zeigt es vielmehr, wie lebendig die DocCheck-Community ist und welche Freude sie an Diskussionen hat? Für mich waren die Kritikpunkte ein Ansporn, das Thema noch einmal aufzugreifen und die wichtigsten Einwände von euch zusammenzufassen und aufzuarbeiten. Einige Kommentare waren dabei wenig sachlich, teilweise sogar beleidigend – im Internet leider keine Seltenheit. Doch jenseits der Polemik gab es viele kluge Hinweise, auf die ich hier eingehen möchte.
Größter Kritikpunkt: die mögliche psychosomatische Komponente. Viele Kommentatoren lehnten diese rundweg ab; es handele sich um eine rein somatische Erkrankung. Deswegen solle auch nur in diese Richtung geforscht und behandelt werden. Psychiatrische Symptome seien höchstens eine Folge der Krankheit. Im Statement der DGN werde zu viel Wert auf eine mögliche psychosomatische Komponente der Erkrankung gelegt. Dies führe zur Stigmatisierung der Betroffenen und verharmlose deren Schicksal. Das biopsychosoziale Modell wird mehrfach abgelehnt, man solle sich auf den „Bio”-Aspekt konzentrieren.
An die Ablehnung der psychischen Komponente schließt sich an, dass die somatische Genese längst belegt sei. An konkreten Studien werden die DecodeMe-Studie und nicht näher bezeichnete Arbeiten aus Skandinavien und Japan genannt. Auch die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS äußerte in der Ärztezeitung Kritik an der DGN-Stellungnahme und bekam dabei Unterstützung vom ehemaligen Gesundheitsminister Karl Lauterbach und von Prof. Carmen Scheibenbogen, die in den Kommentaren häufig als Expertin genannt wurde. Hier wird darauf aufmerksam gemacht, dass verschiedene Studien neuroimmunologische Auffälligkeiten bei ME/CFS nachgewiesen haben, unter anderem Zytokinmuster und Autoantikörper gegen G-Protein-gekoppelte Rezeptoren.
In den Kommentaren berichteten auch einige Betroffene, wie sie mit ihrer Erkrankung umgehen. Zwei User berichteten von einer positiven Wirkung von Apherese-Behandlungen und kritisieren, dass sie diese selbst bezahlen mussten. Ein anderer User berichtete, dass ihm Ruhe, Atemtechniken und Nahrungsergänzungsmittel geholfen hätten, die Erkrankung zu überwinden. Prompt kamen hier Gegenstimmen: Das könne keine „echte“ ME/CFS gewesen sein.
Nicht alle Kritikpunkte lassen sich hier im Detail wiedergeben. Auch die DGN selbst hat inzwischen mit einer kurzen Meldung auf die Kritik reagiert: Sie betonte, wissenschaftliche Studien zu Biomarkern und Therapien kontinuierlich zu unterstützen und dazu im Austausch mit der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS zu stehen.
Zum Thema ME/CFS gibt es viele starke Meinungen. Das Krankheitsverständnis bleibt unvollständig, auch wenn es interessante Studienergebnisse gibt. Ein umfassendes Krankheitskonzept und vor allem wirksame evidenzbasierte Therapien lassen sich aus den bisherigen Ergebnissen noch nicht ableiten.
Was wir festhalten können: Emotional geführte Diskussionen können Forscher und Behandler abschrecken – mit dem Risiko, dass sie sich aus Angst vor Beleidigungen und Shitstorm zurückziehen. Das wäre schade, da sich in einem Punkt alle einig sind: Wirksame Therapien, die Betroffenen helfen, wieder alltagsfähig zu werden, werden dringend benötigt.
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