Seit der Pandemie ist ME/CFS vielen ein Begriff – verstehen tun ihn jedoch die wenigsten. Die DGN warnt nun vor dem Tunnelblick bei der Diagnose: Der Name suggeriert eine Entzündung, wo möglicherweise keine ist.
Immunsystem freigesprochen? In einer aktuellen Stellungnahme äußert sich die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) – basierend auf der Einschätzung der Kommission Neuroimmunologie – kritisch gegenüber einseitigen immunologischen Therapiestrategien bei Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Es gebe weiterhin keine belastbaren Belege für eine immunologische Genese der Erkrankung, geschweige denn für die Wirksamkeit von Therapieformen, die das Immunsystem beeinflussen sollen.
Die Bezeichnung der Erkrankung ist unglücklich gewählt: Ein auf -itis endender Name suggeriert eine Entzündung von Gehirn und Rückenmark, die bei ME/CFS jedoch in der Regel nicht nachweisbar ist. Der Name „Chronic Fatigue Syndrom“ ist wiederum umstritten, da er verharmlosend wirken kann. Betroffene sind nicht einfach „chronisch erschöpft“, sondern leiden erheblich, was in vielen Fällen eine normale Alltagsbewältigung unmöglich macht. Die offizielle Bezeichnung der Erkrankung besteht also aus zwei Abkürzungen, hinter denen sich jeweils ein umstrittener Begriff verbirgt. Angesichts dieser Mehrdeutigkeit drängt sich die Frage auf, ob es nicht Zeit für eine neue, präzisere Bezeichnung wäre.
Die Bezeichnung „Enzephalomyelitis“ könnte der Grund für die Fokussierung auf eine Verursachung durch eine fehlgeleitete Immunreaktion sein. Auch wenn das Krankheitsbild ME/CFS schon jahrzehntelang existiert, hat es im Nachgang der Corona-Pandemie erhebliche Aufmerksamkeit erhalten. In dieser Zeit entwickelten viele Menschen Symptome, die die Kriterien von ME/CFS erfüllen. Zu den charakteristischen Symptomen gehört die sogenannte Post-Exertional Malaise (PEM), bei der sich die körperliche und geistige Verfassung bereits nach geringer Anstrengung erheblich verschlechtert. Dies tritt oft mit Verzögerung ein, bleibt dann aber für einen längeren Zeitraum bestehen. Betroffene sind teilweise tagelang nicht in der Lage, ihre Wohnung zu verlassen.
Das Symptom der PEM ist zwar charakteristisch, bleibt aber trotz Diagnosekriterien und standardisierter Fragebögen letztendlich subjektiv. Deshalb wurde intensiv nach einem objektiven Biomarker geforscht – bislang ohne Erfolg. Auch politisch wurden erhebliche Summen für die Forschung zu ME/CFS und Post-COVID bereitgestellt. Der Schwerpunkt dieser Forschung lag vor allem auf den möglichen immunologischen Ursachen der Erkrankungsbilder. In mehreren Studien wurden Unterschiede in bestimmten Biomarkern zwischen Betroffenen und gesunden Kontrollpersonen festgestellt. Allerdings konnte daraus bislang kein schlüssiges Konzept zur Krankheitsentstehung entwickelt werden.
Ein Blick über den Tellerrand würde helfen, denn ein mögliches Problem der bisherigen Forschung könnte der Fokus auf immunologische Aspekte sein. Die DGN weist darauf hin, dass das Beschwerdebild sich mit Erkrankungsphänomenen aus den Bereichen Innere Medizin, Rheumatologie, Endokrinologie, Psychiatrie, Psychosomatik und Infektiologie überlappt. Insbesondere sollte deshalb auch die Forschung zu psychiatrischen und psychosomatischen Ursachen und Therapiemöglichkeiten nicht hinten angestellt werden.
Einige Patientenorganisationen lehnen Forschung zu psychosomatischen oder psychiatrischen Ursachen ab, da sie eine Stigmatisierung befürchten. Das kann einer ergebnisoffenen Ursachenforschung jedoch entgegenstehen. Nach Angaben von Patientenvertretern sind in Deutschland 620.000 Menschen an ME/CFS erkrankt. Bei einer so hohen Zahl an Betroffenen ist davon auszugehen, dass sich hinter dieser Gruppe ein heterogenes Bild unterschiedlicher Ursachen verbirgt. Häufig sind zumindest für einen Teil der Symptome andere Erkrankungen verantwortlich, für die oft gut etablierte Behandlungsmöglichkeiten bestehen. Auch im individuellen Fall ist deshalb der Blick über den Tellerrand des eigenen Fachgebiets sinnvoll.
Wie bei anderen Beschwerden auch, kann das bio-psycho-soziale Modell zur Erfassung der Symptome und zur Wahl einer wirksamen Behandlung verwendet werden. Neben der Abklärung biologischer Veränderungen sind dann auch psychologische (Umgang mit der Erkrankung, psychiatrische Komorbiditäten) und soziale Faktoren (familiäres Umfeld, Beruf) zu berücksichtigen. Dieses Vorgehen würde auch dabei helfen, den von der DGN so bezeichneten „Wildwuchs an nicht evidenzbasierten Therapien“ einzugrenzen.
Aufgrund des hohen Leidensdrucks greifen Betroffene verständlicherweise nach jedem Strohhalm, beispielsweise nach Apherese-Verfahren oder Vitamin-Infusionen. Die bestehenden Strukturen des Gesundheitssystems sind oft nicht ausreichend, um alle Betroffenen adäquat zu behandeln und sie über das noch sehr lückenhafte Wissen sowie die wenigen erfolgsversprechenden Therapiemöglichkeiten aufzuklären. Deshalb werden häufig Therapien angewendet, die keinen belegten Nutzen haben, teuer sind und mit Risiken und Nebenwirkungen einhergehen.
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