KOMMENTAR | Dank des medizinischen Fortschritts überleben immer mehr Patienten – sie und ihre Angehörigen zahlen aber teilweise einen immens hohen Preis dafür. Mir kommen dazu ein paar Gedanken.
Ich habe vor Kurzem einen Text zu der Stoffwechselerkrankung Cystinose verfasst. Die Leitlinie zu lesen und über sie zu schreiben, war eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Zunächst das Hoch: Das 1997 zugelassene Medikament Cysteamin hat aus der tödlichen eine chronische Krankheit gemacht. Betroffene können sich gut entwickeln; die ersten haben das Erwachsenenalter erreicht, es gibt auch schon Kinder von Cystinose-Patientinnen. Ein Triumph der Medizin also.
Dann das erste Tief: Da das Medikament die Krankheit nicht heilt, muss es lebenslang eingenommen werden, und zwar je nach Präparat alle 6 oder alle 12 Stunden. Und es hat natürlich Nebenwirkungen. Die belastendste ist der schlechte Geschmack, der den Patienten das Essen verleidet, verbunden mit einem schwefeligen Mundgeruch. Die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen leiden so sehr darunter, dass viele die empfohlene Dosis nicht tolerieren. Der Kampf gegen Übelkeit, Erbrechen, fehlenden Appetit und soziale Ausgrenzung begleitet die Betroffenen und ihre Eltern Tag für Tag.
Und dann noch das zweite Tief: Bei Cystinose-Patienten ist jede einzelne Körperzelle betroffen, also jedes Gewebe und jedes Organ. Die Krankheit macht sich erst bemerkbar, wenn manche Schäden bereits unumkehrbar sind. Am heftigsten trifft es die Nieren. Cysteamin kann ein Versagen der Nieren nicht verhindern, nur hinauszögern. Immerhin um sechs bis zehn Jahre, doch irgendwann ist bei jedem eine Nierenersatztherapie bis hin zur Transplantation nötig.
Diese verheerende Prognose ist für sich schon eine enorme Bürde, doch sie ist nur ein Aspekt der Krankheit. Geschädigt sind auch Knochen, Muskeln, Nerven, Hormone und besonders auch die Augen, die vom systemischen Cysteamin nicht erreicht werden, weshalb das Medikament täglich in die Augen getropft werden muss. Aufgrund der Nierenschädigung verlieren die Patienten viel Wasser, bis zu 10 Liter täglich. Das heißt: Sie müssen diese Menge nicht nur trinken, sie scheiden sie auch aus. An einem typischen Tag ist ein Dreijähriger, so steht es auf der Webseite der Cystinose-Selbsthilfe, trotz Windeln um 11:30 Uhr bereits zum dritten Mal umgezogen. Auch Essen ist extrem mühsam. So lautet die Notiz um 15:30 Uhr: „Welch ein Glück – kein Erbrechen heute Nachmittag, ½ Joghurt in ½ Stunde gegessen.“
Dieses Auf und Ab stieß bei mir einen zweiten Gedanken an: Was macht die Medizin hier mit uns? Der Fortschritt kennt nur eine Richtung, er stößt immer zum nächsten Machbaren vor und lotet das übernächste Machbare bereits aus. Der Fortschritt schafft Tatsachen – ohne Rücksicht auf Verluste. Denn sind die Fakten in der Welt, müssen alle damit klarkommen, die Patienten, die Angehörigen und die Gemeinschaft. Dass die seelischen Belastungen neuer Maßnahmen bestenfalls sekundär bedacht werden, benennt die Leitlinie recht deutlich: „Neben den physischen Manifestationen rücken zunehmend die psychosozialen Auswirkungen in den Fokus der Forschung.“
Wie gravierend die sind, betont die Leitlinie ebenfalls: „Studien belegen eine signifikant niedrigere gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Patienten mit Cystinose im Vergleich zur Normalbevölkerung, insbesondere im emotionalen Wohlbefinden und der sozialen Funktionsfähigkeit. Spezifische psychosoziale Herausforderungen umfassen u. a. Isolation, Stigmatisierung und Unsicherheit bezüglich der Zukunft.“ Besonders hart trifft es sozial benachteiligte Familien, denn sie stehen „vor zusätzlichen Herausforderungen beim Zugang zu psychosozialen Angeboten. Informationsdefizite, finanzielle Engpässe und Schwierigkeiten mit Krankenversicherungen und Erstattungen können den Zugang erschweren“. Die existenziellen Nöte des Kindes führen also mitunter auch zu existenziellen Nöten der Familie.
Ich musste an zwei Begebenheiten denken, die schon viele Jahre her sind. Ein Kind hatte einen schweren Herzfehler. Alle waren überglücklich, als das Mädchen ein Spenderherz bekam. Doch die Konsequenzen waren dramatisch: Zusätzlich zu all den Sorgen, Hoffnungen, immer drohenden Abstoßungsreaktionen und Infekten belastete alleine der logistische Aufwand die Familie enorm. Sie lebte tief in Westdeutschland, das Kinderherzzentrum war in Berlin. Jede Behandlung und jede Untersuchung bedeutete eine Fahrt von vielen hunderten Kilometern. Am Ende ihrer Kraft sagte die Mutter einmal: „Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätte kein Spenderherz bekommen.“ Dabei liebte sie ihre Tochter und natürlich war sie dankbar und glücklich über das neue Herz und die Chance auf ein Weiterleben.
Die zweite Begebenheit war der Vortrag eines Arztes. Er erzählte von einem Patienten, der von Krebs geheilt worden war. Als der Arzt ihm die frohe Botschaft überbrachte und überschwängliche Dankbarkeit erwartete, sagte der Patient: „Ach, wissen Sie, Herr Doktor, wenn ich gewusst hätte, was das bedeutet, hätte ich mich nicht behandeln lassen. Das war es nicht wert.“ Einem anderen Patienten dagegen wollte er gerade die Vor- und Nachteile der möglichen Optionen darlegen, als jener ihn unterbrach und sagte: „Sie müssen mir das gar nicht erklären. Ich bin so glücklich mit meiner Frau, machen Sie alles, was Sie können. Jede Minute ist mir kostbar.“
Zwischen diesen Polen bewegt sich die Sicht auf das eigene Leben, auf die Balance aus Freude und Glück auf der einen und Verzweiflung, Schmerz und Hoffnungslosigkeit auf der anderen. Doch während man als Erwachsener – in engen Grenzen zwar, aber doch – selbst entscheiden kann, ob man so leben möchte, hat ein sechs Monate altes Kind diese Option nicht.
Die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert sagt, dass ihrer Ansicht nach zur Verhältnismäßigkeit von therapeutischen Interventionen mit bleibenden massiven Beeinträchtigungen bislang keine guten Analysen vorliegen, sie aber wohl zunehmend erforderlich werden könnten. Sie persönlich hat die Vision von einem „breiten Entscheidungskorridor für die Eltern“.
Der dritte Gedanke: Die Webseite der Cystinose-Selbsthilfe bietet einen kurzen Film mit und über Patienten an. Derzeit gibt es 120 Cystinose-Patienten in Deutschland. Auf ihren regelmäßigen Treffen machen sie sich Mut und tauschen ihre Erfahrungen aus. Sie sehen sich als eine große Familie. In dem Film erklären die Betroffen selbst, was eine Cystinose bedeutet. Sie beschönigen das Mobbing in der Schule und die anderen Schattenseiten ihrer Krankheit nicht. Aber zumindest bei diesen Patienten wird deutlich: Ihnen wurde ein Leben geschenkt. Sie feiern das Leben.
Bildquelle: Camden & Hailey George, Unsplash