Noch vor wenigen Jahrzehnten starben Kinder mit Cystinose früh. Dank moderner Therapien erreichen heute viele Betroffene das Erwachsenenalter – aber die Nebenwirkungen haben es in sich.
Lysosome enthalten hydrolytische Enzyme und Phosphatasen, mit denen sie Fremdstoffe oder körpereigene Stoffe abbauen. Dem Membranprotein Cystinosin kommt dabei die wichtige Aufgabe zu: das Disulfid Cystin aus den Lysosomen ins Zellplasma auszuschleusen, wo es in zwei Aminosäuren Cystein gespalten wird. Ist das Gen für das Membranprotein auf beiden Allelen defekt, reichert sich Cystin in allen Körperzellen an – mit fatalen Folgen.
Vor allem die Nieren werden irreversibel geschädigt, aber auch das Nervensystem, die Muskeln, die Knochen, der Hormonhaushalt und die Augen werden schwer in Mitleidenschaft gezogen. Betroffene Kinder verlieren extrem viel Wasser und Elektrolyte, sind oft unterernährt und wachsen schlecht. Unbehandelt sterben sie noch vor ihrem 10. Lebensjahr.
So war es zumindest bis 1985, als Patienten erstmals mit Cysteamin behandelt wurden, das seit 1997 als Medikament zugelassen ist. Einige Cystinose-Patienten sind heute 30 oder sogar 40 Jahre alt – für die Medizin sind sie ein absolutes Novum. Da sich die mit 95 Prozent häufigste und auch schwerste Variante der Krankheit, die infantile nephropathische Cystinose, erst ab dem sechsten Monat bemerkbar macht, setzt die Therapie frühestens zu einem Zeitpunkt ein, an dem die Nieren bereits unumkehrbar geschädigt sind. Nierenersatztherapie oder Transplantation sind unausweichlich.
Die Therapie mit Cysteamin kann ein Nierenversagen zwar nicht verhindern, es aber immerhin um etwa 6 bis 10 Jahre hinausschieben. Auch in anderen, wenngleich nicht allen Organen verzögert oder verhindert die Cysteamin-Einnahme Schäden. Zudem kann sie das Wachstum verbessern. An der Entwicklung eines Testosterondefizits sowie eines Defizits in der Spermienproduktion ändert sie jedoch nichts. Die Entwicklung des Cysteamins ist ein bahnbrechender medizinischer Fortschritt, dessen Effekt so dramatisch ist, dass er trotz fehlender hochwertiger Studien als sicher gilt. Sicher ist auch, dass der Effekt umso größer ist, je früher das Medikament eingenommen wird.
Fallstudien zeigen, dass sogar das Fanconi-Syndrom mit den schweren Nierenschäden ausbleibt, wenn die Therapie direkt nach der Geburt startet.Deshalb fordern die Autoren der neu erstellten S3-Leitlinie Cystinose, den Test auf die Erbkrankheit in das Neugeborenenscreening aufzunehmen. Die Federführung bei der Leitlinie hatte die Gesellschaft für Pädiatrische Nephrologie. Diesen großen Aufwand einer neuen Leitlinie unterstützte der Innovationsfonds des G-BA für 2 Jahre mit 180.000 €.
Obwohl das Cysteamin eine Art Lebensversicherung für die Patienten ist, zahlen sie einen hohen Preis. Da das Mittel die Krankheit nicht heilt, muss es lebenslang eingenommen werden, und zwar alle 6 Stunden – mit den seit 2013 verfügbaren Retard-Präparaten alle 12, plus mehrmals täglich als Augentropfen. Die Nebenwirkungen der Therapie sind allerdings so gravierend, dass 15–50 % der Patienten die empfohlene Dosis nicht ertragen.
Das Medikament schlägt auf Magen und Darm, es verursacht Kopfschmerzen und Übelkeit und es führt zu Dehnungsstreifen und Läsionen der Haut. Als die gravierendste Nebenwirkung gilt der Mundgeruch. Die Autoren beschreiben ihn als fauligen Geruch, der entsteht, weil Dimethylsulfid und Methanthiol gebildet und ausgeatmet werden. Verhindern kann man die Halitosis nicht, aber zinkhaltige Präparate wie Mundwasser und Kaugummis oder Chlorophyll können offenbar helfen. Um den Organschäden zu begegnen, ist es mit der Einnahme von Cysteamin allein nicht getan. So müssen die meisten Säuglinge und Kleinkinder über eine Sonde ernährt werden.
Für betroffene Frauen gilt glücklicherweise: Sie können trotzdem schwanger werden. Die ersten Babys sind bereits geboren. Die Autoren raten trotz der Bedeutung des Cysteamins allerdings dazu, es für die Zeit der Schwangerschaft abzusetzen – nach Versuchen an Mäusen ist es wahrscheinlich teratogen.Die Leitlinie haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Midjourney