KOMMENTAR | Dieses Urteil schlägt Wellen: Der BGH erlaubt Rx-Boni. Ein schwarzer Tag für Apotheken, die vor Ort arbeiten. Jetzt brechen Nahversorgung, Beratungskultur und persönliches Vertrauen weg.
Ein jahrzehntelanger Rechtsstreit endet mit einem Urteil, das den Apothekenmarkt nachhaltig verändern könnte: Der Bundesgerichtshof (BGH) erlaubt Boni auf rezeptpflichtige Arzneimittel – zumindest für ausländische Versandapotheken. War es das für die wohnortnahe Versorgung und die Zukunft der öffentlichen Apotheke?
Am 17. Juli 2025, hat der Bundesgerichtshof (BGH, Az. I ZR 74/24) entschieden: EU-Versandapotheken wie DocMorris dürfen für verschreibungspflichtige Medikamente Boni gewähren – basierend auf der Rechtslage vor Inkrafttreten des Bonusverbots im SGB V. Damit wurde die Klage des Bayerischen Apothekerverbands (BAV) zurückgewiesen und der alte § 78 Arzneimittelgesetz (AMG) als unionsrechtswidrig im Hinblick auf ausländische Anbieter bestätigt.
Bereits 2012 sorgten Boni‑Aktionen durch DocMorris (damals Wellsana/Taminis) für Aufregung. Kunden erhielten 3 € Rabatt pro Medikament, insgesamt bis zu 9 € pro Rezept – darüber hinaus waren bis zu 9 € für einen Arzneimittelcheck vorgesehen. Dieses Modell wurde sowohl vom Landgericht München I als auch später vom OLG München als Verstoß gegen die deutsche Preisbindung bewertet.
Dieser Rechtsstreit bildete den Ausgangspunkt für das aktuelle Verfahren vor dem BGH. 2014 untersagte das Landgericht München I diese Prämien; das Oberlandesgericht bekräftigte dies 2024 – sowohl nach altem AMG- wie neuem SGB‑V-Recht. Doch im Kern blieb der Rechtsstreit durch das EuGH-Urteil von 2016 umstritten: Demnach dürfen EU-Versender nicht zum deutschen Preisbindungssystem verpflichtet werden – das begründete der BGH nun erneut. Richter forderten „harte Fakten“ zur Notwendigkeit der Preisbindung. Solche Daten fehlten im Verfahren laut Urteil, weswegen das Verbot nicht greifen könne. Eine weitere Vorlage an den EuGH unterließ das Gericht.
Zentraler Punkt: Der BGH stützte sich allein auf die frühere AMG-Regelung, nicht auf das spätere SGB‑V-Verbot. Obwohl Letzteres weiterhin gilt, wurde es rechtlich nicht geprüft – die Richter entschieden gegen die Wiederholungsgefahr nach § 78 AMG, weil EU-Recht Vorrang habe. Rechtlich bleibt somit offen, ob die Rx‑Preisbindung im SGB V dem gleichen Prüfmaßstab standhalten kann.
DocMorris feierte das Urteil umgehend als „Meilenstein“ für die Wahlfreiheit der Patienten und startet zeitnah neue Boni-Aktionen von bis zu 10 € pro Medikament. Redcare Pharmacy, ehemals Shop Apotheke Europe und europaweiter Online-Apotheken-Konzern mit Sitz in den Niederlanden, begrüßte das Urteil als „Befreiungsschlag“ für EU-Versender. Auch laut Redcare stärke das Urteil die Wahlfreiheit der Kunden und schaffe zudem „rechtliche Klarheit“ – ein zentrales Momentum im seit Jahren hart umkämpften, grenzüberschreitenden Pharmamarkt.
Dem gegenüber steht eine klare Botschaft der ABDA: Präsident Thomas Preis – zugleich Vorsitzender der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände – betonte, dass Rabatte und Boni „nicht in die Arzneimittel- und Gesundheitsversorgung gehören“. Die sozialrechtliche Rx‑Preisbindung im SGB V sei weiterhin gültig, und die Politik solle rasch handeln, um Klärung zu schaffen.
Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) teilte mit, dass das Rx‑Bonusverbot des SGB V weiterhin besteht und man die schriftliche Urteilsbegründung abwarte, um konkrete Schritte ableiten zu können. Auch CDU-Gesundheitspolitikerin Simone Borchardt stellt klar, dass die Sozialgesetzbuch-Regelung unzweifelhaft gültig bleibe.
Wie dringend eine politische Klarstellung wäre, zeigt auch ein Blick auf die aktuelle Marktdynamik: Gerade für kleinere Landapotheken könnte die BGH-Entscheidung mittelfristig fatale Folgen haben – insbesondere, wenn sich wirtschaftliche Effekte zeigen, die das ohnehin fragile Gleichgewicht im Apothekenmarkt weiter ins Wanken bringen. Eine aktuelle empirische Studie der Universität Gießen liefert hier wichtige Hinweise: Sie zeigt, dass das Rx-Bonusverbot die Rentabilität kleiner Apotheken um durchschnittlich 1,4 bis 1,6 Prozent stärken konnte. Vor allem, weil sich diese Betriebe nicht im aggressiven Preiswettbewerb mit Online-Versendern behaupten mussten. Entsprechend groß ist nun die Sorge, dass dieses zarte wirtschaftliche Plus durch neue Boni-Kampagnen schnell wieder verloren gehen könnte.
Die kurz- und mittelfristigen Auswirkungen sind klar: EU-Versender gewinnen neue Werbeinstrumente, während lokale Apotheken Marktanteile verlieren könnten. Für ländliche Regionen drohen erhöhte Versorgungslücken, für urbanes Gebiet wächst der Preisdruck. Kleine Offizinen haben weniger Spielraum, dem mit Service oder Bündelmodellen entgegenzuwirken. Auf politischer Ebene befindet sich Deutschland nun in Zugzwang: ABDA, BMG und Gesundheitspolitiker fordern gesetzgeberische Klarstellungen. Denkbar sind zusätzliche Belege für die Wirksamkeit des Bonusverbots – etwa durch Statistik zur Erreichbarkeit oder Medikamentensicherheit.
Patienten mögen sich kurzfristig über niedrigere Zuzahlungen freuen. Doch langfristig droht der Verlust persönlicher Beratung und wohnortnaher Versorgung – Aspekte, die gerade für chronisch Kranke oder mobilitätseingeschränkte Menschen lebenswichtig sind.
Aus meiner Sicht als Mitarbeiterin einer öffentlichen Apotheke war das ein schlechter Tag für mein Arbeitsumfeld. Das Urteil signalisiert dem Markt: Online-Versender haben freie Bahn für Boni-Aktionen auf verschreibungspflichtige Arzneimittel. Die wohnortnahe Versorgung wird weiter unter Preisdruck gesetzt – mit potenziellen Konsequenzen für kleinere Offizinen, die eigentlich auf zusätzliche finanzielle Mittel angewiesen wären, und auf diesem Weg weitere Kundenkontakte verlieren.
Ich erlebe diese Dynamik täglich: Kunden vergleichen Preise, verlagern Bestellungen auf Online-Versender, das Beratungsfeld wird enger. Ich sehe aber auch genau, was wegzubrechen droht: Nahversorgung, Beratungskultur, persönliches Vertrauen. Wer all das schützen will, muss politisch und strukturell nachlegen – und das Urteil als Weckruf verstehen.
Bildquelle: Jayy Torres, Unsplash