Stress im Job? In der Gesundheitsbranche an der Tagesordnung. Warum es so wichtig ist, Überlastung nicht nur anzuerkennen, sondern auch zu belohnen.
Mein früherer Chef im Krankenhaus hatte vor Jahren eine für uns Assistenten nette Regel: Es gab immer mal wieder eine Ausschüttung von den privatärztlichen Liquidationen, die zumindest grob proportional war zum vorherigen Arbeitsaufkommen. Wenn mal wieder die Hölle los gewesen war im Winter und wir mit Außenliegern, Überbelegung und allem auf dem Zahnfleisch gingen, gab es mehr „Schmerzensgeld“, wie wir das immer nannten. Im Sommer, wenn traditionell weniger los war, gab es zwar auch was, aber weniger. Das war für alle nachvollziehbar und halbwegs fair.
Ja, unser Krankenhaus war ein bisschen Garten Eden. Fast ein Drittel der Kollegen hatte den Facharzt oder war kurz davor – man hatte also immer einen anderen Kollegen, den man als Jungarzt fragen konnte. Dienste mussten nicht sofort sein, sondern man wurde erst eingearbeitet. Überstunden wurden nicht erfasst, aber blieben im überschaubaren Rahmen und man kam zwar müde nach Hause, aber ich fand es erträglich (ganz anders als in der Uniklinik, da hab ich nach 5 Monaten die Segel gestrichen).
Worum es mir aber in diesem Beispiel geht, ist das simple, ökonomische Prinzip: Bei guten Arbeitsbedingungen bekommt man sein normales Gehalt – und wenn es akute Stressphasen gibt, die anderweitig nicht umgangen werden können (Infektsaison), dann kann der Arbeitgeber versuchen, zumindest eine finanzielle Anerkennung zu geben – Schmerzensgeld halt.
Jetzt ist es aber anders: Die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern sind bekanntermaßen so, dass regelmäßig für bessere Arbeitsbedingungen gestreikt wird. Was auch verständlich ist, wenn man hört, wie die Kollegen inzwischen eigentlich durchgehend am Limit sind, weil alle unterbesetzt sind, alles in minimaler Zeit durchgezogen werden muss, jüngste Anfänger alleine Stationen versorgen müssen ohne jegliche Weiterbildung und der Patient „blutig entlassen“ wird, da sonst die Kosten ggf. nicht von der Krankenkasse kompensiert werden, wenn die Liegedauer zu lang ist. Und die Hauptarbeit kommt nun mal bei Aufnahme und Entlassung auf.
Meistens enden die Tarifrunden aber nicht mit besseren Arbeitsbedingungen (die ja auch diffuser und schwieriger umzusetzen sind), sondern vor allem mit mehr Geld – Schmerzensgeld halt – bei der letzten Verhandlung letztlich 8,5 % mehr bei einer Laufzeit von 30 Monaten. Von solchen Erhöhungen träumen viele andere Gewerkschaften, aber das Problem ist ein gewisser Teufelskreis: Es wird immer wieder davon gesprochen, dass die Kosten für den stationären Sektor sehr stark gestiegen sind. Dazu trägt aber zu einem großen Anteil auch die Tatsache bei, dass die Vergütung der Krankenhäuser durch die Krankenkassen auch mit dem Lohn von ärztlichem und pflegerischem Personal (plus hohe Inflation bei den Energie- und Sachkosten) abhängt. Daher wird die Personaldecke knappgehalten, weil das einer der größten Kostenfaktoren ist – und damit bleiben die Arbeitsbedingungen schlecht, was dann mit mehr Lohn kompensiert werden soll. Finde den Fehler ….
Im ambulanten Sektor schlägt die Lohnerhöhung nur deswegen in den Gesundheitskosten nicht so zu Buche, weil der Punktwert eben NICHT mit den Personalkosten gekoppelt ist, sondern die selbständig Niedergelassenen das kompensiert haben (also es letztlich von ihrem Gewinn abgeben an die Jüngeren). Die letzten tariflichen Verhandlungen mit den MFA haben es jetzt umgekehrt gemacht: Die MFA-Tarife erhöhen sich jetzt mit dem Zuwachs des Punktwertes, aber nicht der Punktwert anhand der Personalkosten.
Eigentlich sollte man meinen, dass das auch im ambulanten Sektor was anderes ist, weil ich meinen Angestellten viel schönere Arbeitsplätze bieten kann. Geregeltere Arbeitszeiten (voll erfasst inklusive Überstunden, die dann finanziell oder zeitlich ausgeglichen werden), bei uns auch an die Lebensumstände angepasst: Eine meiner Angestellten hatte ihre 20 h auf Dienstag bis Donnerstag verteilt, weil sie eine pflegebedürftige Mutter hatte, die aber 100 km weit weg wohnte und die sie dann regelmäßig besuchen fuhr. Was für uns bedeutete, dass sie eben NICHT einspringen konnte, wenn dann Montag oder Freitag nicht genug Leute da waren. Eine andere kommt morgens etwas später, weil sie noch die Kinder in die Kita bringen muss.
Notdienste mache ich auch alle selbst, es gibt Heimarbeitsplätze für sämtliche Ärzte und für die MFAs, die mit der Abrechnung zu tun haben, ich achte SEHR darauf, dass kranke Mitarbeiter auch nach Hause gehen und es gibt auch keine bösen Worte, wenn jemand mal wegen kranker Kinder ausfällt. Weiterbildung und Feedback finden täglich statt; es gibt sowohl die Möglichkeit, zu fragen als auch eine Rückkopplung anhand des Tagesprotokolls (meistens direkt am nächsten Tag, nur in meinen Urlaubszeiten mal mit 2–3 Wochen Verzögerung).
So weit, so gut … leider erscheint es mir bei den Gehaltsansprüchen, die ich (v. a. von frisch gebackenen Fachärzten) höre, zunehmend so, dass die „Schmerzensgeld-Gehälter“ im Krankenhaus als Mindeststandard gesehen werden, ebenso die Flexibilität (die ja auch für mich organisatorisch Aufwand bedeutet und oft genug auch, dass ich selbst die Arbeitskraft kompensieren muss, wenn jemand fehlt – und ich habe selbst Kinder). Das wird überhaupt nicht gesehen. Und ich bin selbst erst im dritten Jahr der Selbständigkeit – heißt, ich hab finanziell auch kein Polster, auf das ich zurückgreifen kann. Und, im Gegensatz zum Assistenzarzt, der noch subventioniert wird, trage ich die Kosten bei den Fachärzten auch komplett selbst.
Jetzt wird es wieder heißen „Deswegen sollte man eine Einzelpraxis aufmachen! Je weniger Angestellte, desto besser“, was finanziell ja auch völlig korrekt ist. Warum ich mich bislang anders entschieden hab, habe ich ja bereits in einem vorherigen Artikel beschrieben – aber ich fange langsam an, zu schwanken. Denn die nächste Gehaltserhöhung droht und wenn zudem unklar ist, ob und wie es mit der hausarztzentrierten Versorgung weitergeht, wenn die KV gleichzeitig ein Primärarztsystem anbieten will, wird mir sehr, sehr mulmig zumute.
Letztlich müssen alle im Leben wieder Kompromisse machen – wenn gute Arbeitsbedingungen geboten werden (die Standard sein sollten und keine Ausnahme!), kann man nicht gleichzeitig dieselbe finanzielle Kompensation verlangen, die Leute in miesen Arbeitsbedingungen bekommen. Und so, wie sich die Spirale Löhne-Krankenhauskosten-Versichertenbeiträge gerade weiterdreht, kommen wir bald an den Punkt, wo es einfach nicht mehr geht.
Oder auch: Ein Kompromiss ist nur dann gerecht, brauchbar und dauerhaft, wenn beide Parteien damit gleich unzufrieden sind. –Henry Kissinger
Bildquelle: Yunus Tuğ, Unsplash