Herr Papadopoulos ist adipös, er hievt sich schwerfällig in den Sessel. Noch kurzatmig erzählt er mir von seiner letzten Radtour: 150 Kilometer. Wie ich im therapeutischen Kontext mit den Lügen meiner Patienten umgehe.
„Zuhause bin ich halt immer richtig weit Fahrrad gefahren, wenn es mir schlecht ging. So 100–150 km am Tag.“ Mein heutiger Patient ist Herr Papadopoulos (der natürlich nicht tatsächlich so heißt), ein leicht verwahrloster junger Mann. Es scheint, als versuche er, seine ausgeprägte Muskelhypotonie mit dem Aufbau einer massiven Adipositas auszugleichen. Im Stehen geben seine Knie zur Innenseite hin nach und die zwei Treppen zu meinem Büro scheinen jede Woche seinen persönlichen Everest darzustellen.
Regelmäßig stellt er die Stabilität meiner Sitzmöbel auf die Probe, weil seine Oberschenkel nicht die Kraft haben, sein Gewicht beim Niederlassen abzufangen. Er kracht also beinahe ungebremst mit seinem vollen Körpergewicht auf die unschuldige Sitzgelegenheit. NIE. IM. LEBEN. fährt dieser Mann mit dem Fahrrad 100 Kilometer an einem Tag.
Ich möchte mich dennoch vergewissern: „E-Bike oder normal?“ – „Normal natürlich.“ Er verzieht keine Miene. „Einmal bin ich von Rügen nach Zürich gefahren. Da hab ich fast drei Tage gebraucht.“ Im Geiste gehe ich die Karte von Deutschland in die Schweiz durch, überschlage die Kilometer und versuche, grob zu rechnen. Es ist schnell klar: Der Junge lügt wie gedruckt.
Wie geht man nun mit Unwahrheiten im therapeutischen Kontext korrekt um? Ich habe bereits in einem anderen Artikel Bezug genommen auf konfabulative Traumaerlebnisse. Also Dinge, die um ein Trauma herum erfunden oder falsch erinnert werden. Oder Traumata, die komplett erfunden sind. In dem betreffenden Case Report habe ich mich für die Konfrontation des Patienten entschieden, was damals zum Abbruch der therapeutischen Beziehung führte.
In dem aktuellen Fall lasse ich meinem Patienten die Lüge – diese Entscheidungen passieren oft spontan, aus dem Bauch heraus. Eine fachliche Rechtfertigung lege ich meist erst später darüber. Herr Papadopoulos ist ein sehr instabiler, 20-jähriger Patient und mit dem Entwicklungsstand eines ca. 15-Jährigen deutlich reifeverzögert. Außerdem begleiten ihn multiple Diagnosen wie z. B. eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, eine dependente Persönlichkeitsstörung sowie einige Seitenströme. Außerdem eine Suchtproblematik, die er als „Selbstmedikation“ und „Experimentieren“ auf die Seite seiner Skills packt. Er hat nicht viele echte Skills.
Wir sprechen in jeder Sitzung darüber, was er tun oder denken kann, um sich in einer schwierigen Phase selbst zu helfen. Vor zwei Wochen schlug er „Puzzeln“ vor, den Blick auf die Leih-Puzzle in meinem Schrank gerichtet. „Ich puzzle daheim extrem viel. So 1.000 Teile schaffe ich in einer Stunde.“ Ich war beeindruckt. Ich gab ihm ein 1.000- und ein 500-Teile-Puzzle mit auf seinen Haftraum. Bereits am nächsten Tag lag das 1.000-Teile-Puzzle wieder in meinem Fach, mit einer Notiz von Herrn Papadopoulos: „Habe ich noch am selben Tag gemacht. Vielen Dank“. Als ich die Verpackung öffnete, bemerkte ich, dass sich die 1.000 Teile noch eingeschweißt in ihrer Originalverpackung befanden. Offenbar hatte ich das Puzzle zuvor noch nie verliehen und Herr Papadopoulos hatte nicht einmal den Deckel abgehoben.
Im Fall von Herrn Papadopoulos spiele ich das Spiel derzeit noch mit. Aus ganz pragmatischen Gründen: Die Lügen stabilisieren ihn. Er ist mit seinem Leben im Allgemeinen und mit der Haftsituation im Speziellen massiv überfordert. Er hat bereits einige Suizidversuche hinter sich, zwei davon in der aktuellen Haft. Seine dreihundertsieben Störungen zu therapieren, würde den zeitlichen und fachlichen Rahmen in diesem Setting sprengen. Und: Seine Lügen tun niemandem weh.
Ich gebe ihm also gegen Ende der Sitzung eine Deutschlandkarte mit, weil er mir heute außerdem erklärt hat, er wolle nach der Haft eine Tour durch ganz Deutschland machen. Mit dem Fahrrad natürlich, kein E-Bike. Wenn er nachts also wieder nicht schlafen kann oder giftige Gedanken bekommt, kann er sich die Karte zur Hand nehmen und schon mal ein bisschen an seiner Tour planen. Ich vermerke in meiner Dokumentation: Konfabulation hoch, Skill „Gedankenreisen“.
Eine weitere, die quasi „klassische“ Form des Lügens ist das strategische Lügen. Die Wahrheit verdrehen, Dinge verschweigen oder gar erfinden, um sich Vorteile zu verschaffen. „Der Arzt hat auch gesagt, es wäre schon wichtig für meine psychische Stabilisierung, dass ich halt regelmäßig mit meiner Freundin telefonieren kann und nicht nur alle sechs Wochen. Deshalb haben wir gedacht, Sie als Psychologin könnten da helfen.“ Die Inkongruenz hier: Unsere Ärzte sagen so etwas nicht.
Meine Lösung in solchen Momenten: „Das ist ja schön, dass der Arzt so engagiert ist. Sie haben doch nichts dagegen, dass ich gleich mal bei ihm durchklingel, damit wir uns über die Telefonregelung absprechen können?“ (ich nehme den Hörer meines Telefons ab und wähle die Nummer eines toten Telefons im Nachbargebäude). „Äh … warten Sie mal. Der hat jetzt vielleicht nicht so richtig gesagt, Sie sollen das machen …“
Danach kann besprochen werden, warum gelogen wurde (Hilflosigkeit und ein klein wenig Delinquenz), was die Motivation für die Lüge war (Bedarf nach mehr Kontakt mit der Freundin) und wie er seine Bedürfnisse erfüllen kann, ohne gegen die Regeln zu verstoßen (leider so gut wie gar nicht. Briefe schreiben ist halt ätzend und dauert lang, und heimlich ein Handy zu besorgen, verstößt wieder gegen die Regeln). Im Anschluss können Regeln für die weitere Zusammenarbeit besprochen werden (z. B. wir lügen uns gegenseitig nicht an) und schon hat man eine gute Grundlage für eine therapeutische Beziehung. Aus der Lüge wurde ein produktives therapeutisches Arbeitsthema.
Eine Sonderform des strategischen Lügens ist das Münchhausensyndrom. Der Betroffene erfindet Krankheiten, die er nicht hat. Diese Patienten schrecken auch nicht vor Selbstverletzungen, häufig durch Gift, zurück, um „echte“ Symptome herbeizuführen. Was ist nun der Vorteil, den sie sich durch diese spezielle Form der Lügen verschaffen wollen? Man spricht hier vom sogenannten „sekundären Krankheitsgewinn“, also der positive Nebeneffekt, den eine Erkrankung für einen Patienten hat (beim 12-Jährigen also Fernsehen und keine Schule bei einer Grippe): Aufmerksamkeit. Medizinische Aufmerksamkeit ist es, nach der ein Münchhausen-Patient giert.
Ernstgenommen werden von den Ärzten, umsorgt werden von den Angehörigen. Die Fürsorge der Umwelt um das eigene körperliche Wohl spüren. Die Störung ist so selten, dass sie im ICD-10 nur als Subtyp unter „artifizielle Störungen“ geführt wird. Und doch kann ich mich spontan an mindestens vier solcher Patienten erinnern. Möglicherweise liegt dies an der hohen Komorbidität des Münchhausen Syndroms mit der dissozialen Persönlichkeitsstörung, Traumata und Selbstwertstörungen. Allesamt Pathologien, die sich in unserer Klientel auffällig häufen.
Und natürlich stellt sich wie so oft die Frage: Wo fängt die Störung an und wo hört die Manipulation auf? Unsere Krankenstation ist nun einmal ein deutlich schönerer Ort als eine reguläre Vollzugsabteilung. Hell, sauber, freundlich und dreimal am Tag schaut eine nette Pflegerin vorbei, misst Blutdruck, bringt Tabletten und hat mit etwas Glück ein nettes Wort übrig. Da kann sich die Genesung schon mal verzögern. Ist das schon Münchhausen?
Auch unsere „Giftler“ (Btm-abhängige Gefangene) werden einen Teufel tun und zugeben, dass die Entzugsschmerzen bereits seit drei Tagen abgeklungen sind. Das würde nämlich bedeuten, dass die Begleitmedikation heruntergefahren wird. Und dann ist da natürlich noch die Fraktion unserer manipulativ suizidalen Patienten. „Wenn mein Gaba runtergefahren wird, bring ich mich um!“ – solche oder ähnliche Sätze fallen innerhalb der Mauern recht häufig. Wir reagieren da sehr empfindlich, denn Suizide sind ein großes Problem im Gefängnis.
Rechtlich, organisatorisch, emotional und personell. Ein Suizid bringt alles durcheinander. Ein Mensch ist tot und wir haben es nicht verhindert. Ein Mensch, für den wir die Verantwortung hatten. Die Spurensicherung kommt ins Haus, Mitgefangene sind traumatisiert, Personal wird gebunden oder fällt aus. Niemand will das. Und das wissen die Gefangenen auch. Diese Drohung kommt also gerade recht, weil sie sehr mächtig ist.
Angelogen zu werden, gehört zu meinem Job. Studien besagen, dass es keinerlei Indikatoren gibt, um eine Lüge zu detektieren, außer die inhaltliche Inkongruenz. All die psychologischen Tipps und Tricks aus diversen Illustrierten können Sie getrost in die Tonne kloppen. Auch die sogenannten „Profiler“ der Polizei werden Ihnen bestätigen: Einen Lügner kann niemand entlarven, außer dieser widerspricht sich selbst oder seine Aussagen sind anderweitig inkongruent (siehe Herrn Papadopulous’ Aussage bezüglich seiner sportlichen Leistungsfähigkeit). Ob jemand beim Sprechen nach links unten oder rechts oben schaut, hat wissenschaftlich gesehen keine Relevanz. Auch die Tatsache, dass jemand nervös wirkt, stottert oder schwitzt sagt lediglich aus, dass jemand nervös wird, stottert oder schwitzt.
Ich habe dennoch manchmal das Gefühl, dass ich wirklich gut darin bin, zu bemerken, wenn ich angelogen werde. Dies liegt aber wohl eher daran, dass ich mir angewöhnt habe, kritisch nachzuhaken und Sachverhalte zu hinterfragen. Meine Standardantwort, wenn mir jemand im privaten Kontext etwas Unglaubliches berichtet, was dieser oder jener gesagt, getan oder erlebt hat ist: „Krass. Sofern das stimmt.“
Vielleicht ist dies schon ein Teil des vielbeschworenen „Haftschadens“, der sich bei den Bediensteten der JVA nach einigen Jahren einstellen soll. Vielleicht aber auch einfach die Akzeptanz der Tatsache, dass jeder Mensch jeden Tag lügt und jeder Mensch jeden Tag angelogen wird. Sofern man eine Lüge erkennt, muss man nur noch verstehen, welche Funktion diese Lüge hat und ob man sie aufdecken oder im Raum stehen lassen möchte. Nur über eines bin ich inzwischen hinweg: jede Lüge als per se moralisch verwerflich zu betrachten.
Eine Lüge kann als emotionale Prothese fungieren, wenn die Wahrheit unerträglich scheint. Als Brücke und Hilfestellung, um eine brutale Wahrheit ein wenig abzumildern oder als Umleitung, um einen kantigen Weg zu einer unbequemen Wahrheit etwas geschmeidiger zu gestalten. Solange niemand geschädigt wird, verlieren wir nichts dadurch, einem Menschen in einem schwachen Moment die ein oder andere stabilisierende Konfabulation zuzugestehen.
Bildquelle: Erstellt mit Midjourney