Bei der Traumatherapie ist die Schilderung des Erlebten essenziell. Doch Traumareaktionen sind komplex: Was tun, wenn ein Patient lügt – oder seine Erlebnisse seltsame Parallelen zu Filmszenen haben?
„Wir waren zu viert und haben die Blauhelme abgesichert, als die Wasser und Medikamente an die Bevölkerung verteilt haben. Ich dreh mich also um und dann war da dieses Kind. Ein Junge, ungefähr sieben oder acht Jahre alt. Es hatte vierzig Grad und der hatte eine richtig dicke Jacke an. Das bedeutet höchste Gefahr. Warum sollte der in der Hitze eine Winterjacke tragen? Er blieb nicht stehen, obwohl wir ihn angesprochen haben, dann angeschrien. Ich habe so gehofft, dass er stehen bleibt…“
Die Stimme des Gefangenen mit einer Figur wie Arnold Schwarzenegger in seinen 30ern bricht. Tränen schießen über sein Gesicht. Mit einer Handbewegung wischt er sie weg, als wolle er sie abschütteln.„Was hätte ich denn tun sollen? Ich musste schießen. Und… das hab‘ ich auch.“„Was ist danach passiert?“
Es läuft gut heute. Ich habe einen Plan: Ich strukturiere das Trauma zunächst zeitlich und helfe meinem Klienten so, es in seiner Wahrnehmung zu sortieren. Wenn es der Kontakt hergibt, werden wir danach noch ein paar emotionale Eindrücke und andere Wahrnehmungen fokussieren. Auf diese Weise bekommt das Unvorstellbare ein Gesicht. Es verliert ein wenig von seinem Schrecken, weil es greifbar – BEgreifbar wird. Man muss gut aufpassen, den Klienten nicht in eine Retraumatisierung gleiten zu lassen. Das Trauma soll auf keinen Fall neu durchlebt werden. Aber eben benannt. Oft ein Drahtseilakt. Aber heute läuft’s.
Herr Buchbinder war Soldat. In Syrien. Er wurde vom Bundeswehrkommando USA/Kanada geschickt.„Wir haben der kleinen Leiche die Jacke ausgezogen und er hatte tatsächlich eine Bombe darunter versteckt.“„Was hat das mit Ihnen gemacht, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Bombe entdeckt haben?“„Ja, es war halt trotzdem ein Kind.“Okay, schade. Ich hatte eigentlich auf eine Art emotionale Relativierung gehofft, weil er ja dadurch seine Kameraden gerettet … egal. Einfach mitgehen. Spiegeln.
„Sie haben sich schuldig gefühlt?“„Ja klar. Irgendwie schon. Aber es war halt auch mein Job und den hab‘ ich ja auch gut gemacht. Sonst wären wir einfach alle tot. Und die Zivilisten, die um Wasser angestanden sind, wären auch alle tot.“„Ja richtig. Vielleicht gibt es im Krieg keine schöne Lösung?“ Er nickt und starrt ins Leere. Wirkt ein bisschen erleichtert. Die Tränen sind auch wieder unter Kontrolle. Lief doch gut so weit.„Ich wollte noch von der zweiten Situation erzählen, die mich nicht loslässt.“„Bitte.“
„Wir waren wieder zu viert. Wir waren eigentlich auf einer Aufklärung. So einer Art Erkundung. Man schaut halt, ob ein Ort sicher ist. Das war ein alter Marktplatz, um uns herum so verlassene und zerbombte Gebäude. Plötzlich schießt es aus dem einen Gebäude. Ein Scharfschütze. Irgendwo. Wir haben uns also aufgeteilt. Ich bin von hinten in das Gebäude rein. Immer wieder fielen Schüsse. Ich konnte dann schon ausmachen, wo der Scharfschütze sein muss. Ich schleich mich also von hinten in das Gebäude und sehe den Scharfschützen. Besser gesagt die Scharfschützin. Ein zierliches Mädchen mit zwei langen braunen Zöpfen.“
Moment. Das kommt mir irgendwie bekannt vor.„Ich wollte nicht schießen. Nicht auf ein Mädchen und vor allem nicht nach der Sache mit dem Jungen.“… braune lange Zöpfe? Wie hieß denn der Film?„Dann dreht die sich um, hat so einen total irren Blick drauf, die Zöpfe fliegen und sie schießt wild mit Ihrer AK47 um sich. Ich hab‘ sie abgeknallt.“
Full Metal Jacket. Das ist das große Finale des Antikriegsfilmes von 1987. Ein grandioser Streifen. Meine Stimmung ändert sich. Ich lehne mich im Stuhl zurück, mein Flow ist dahin. Ich suche in meinem therapeutischen Werkzeugkoffer nach Alternativen. Eine lange Gesprächspause entsteht. Keine gute. Keine taktische. Keine, die ich steuere. Ich habe die Fäden der Gesprächsführung gerade nicht mehr in der Hand. Eins nach dem anderen … erst mal die Dissonanz klar benennen: „Genau wie in Full Metal Jacket?“ Zum Glück ist mir der Titel noch eingefallen. „Hä? Was soll das sein?“
Wieder eine Gesprächspause. Der Mann wirkt authentisch traumatisiert. Die Mitinhaftierten berichten von nächtlichem Schreien, Hochschrecken, Schlafwandeln. Die zuständigen Beamten haben mich schon des Öfteren gerufen, weil der Gefangene eine Panikattacke hatte. Er hat Tavor auf Bedarf im Stationsbüro. Außerdem erhält er eine Invalidenrente der Bundeswehr. Vielleicht ist ihm zufällig wirklich dasselbe passiert…?
„Full Metal Jacket, der Film“, platzt es aus mir heraus, „da gab es eine Szene, die hat sich exakt so abgespielt, Herr Buchbinder.“ – „Naja egal“, fährt er ohne Satzzeichen fort, „das war ja auch noch nicht alles. Ein paar Wochen später… “ Es folgt eine weitere schockierende Geschichte darüber, wie er seinem Kameraden die Hand mit einer Säge amputiert habe, da dieser nach einem Beschuss unter Trümmern eingeklemmt war. Gefahr im Verzug und keine Hilfe in Sicht.
Ich bringe das Gespräch zu einem halbwegs guten Ende und muss danach lange darüber nachdenken, wie der weitere therapeutische Weg aussehen kann. Ein Soldat, der den Film „Full Metal Jacket“ nicht kennt. Das ist so wahrscheinlich wie ein Arzt, der nicht weiß, was „Emergency Room“ ist. Auch das schnelle Umlenken auf die nächste Geschichte macht es mir schwer zu glauben, dass dieser Typ, der aus reiner Muskelmasse zu bestehen scheint, diese Geschichte selbst erlebt hat.
Wie geht man nun fachlich korrekt mit konfabulativen Schilderungen während einer Sitzung um? Ich habe in der Literatur nach Handlungsanweisungen gesucht und wie üblich keine gefunden. In der Psychologie gibt es leider selten Handlungsanweisungen oder Algorithmen. Weil jeder Fall ein bisschen anders, jeder Mensch verschieden ist. Es gibt schon No-Gos – Dinge, die man gar nicht machen darf, aber niemand kann einem wirklich sagen, welche Methode, welche Gesprächsführung, welche Technik bei dem Menschen XY zum Ziel führt.
Konfabulationen können ein Symptom eines Traumas sein – ausgedeutscht: Menschen beginnen damit, Lügenmärchen zu erzählen, wenn ihnen schlimme Dinge passiert sind, die sie nicht verarbeiten können. Aber auch umgekehrt – ein Patient kann konkret durch seine eigenen Konfabulationen traumatisiert werden. Schildert er also oft genug eine Lüge darüber, welch schlimme Dinge ihm passiert sind, so traumatisieren ihn genau diese Dinge unter Umständen so sehr, dass nicht mehr zwischen wahrem und erfundenem Trauma unterschieden werden kann. Kinder sind in dieser Hinsicht besonders suggestibel, aber auch bei Erwachsenen wird dieses Phänomen beobachtet.
Besonders pikant ist das Phänomen, wenn es um Zeugenaussagen geht. Nicht nur, weil der Wahrheitsgehalt der Zeugenaussage in diesem Fall so gut wie nicht mehr überprüfbar ist – sondern auch, weil Zeugen durch eine penetrante und unsachgemäße Befragung massiv traumatisiert werden können, und zwar in einem Maße, als hätten sie das Trauma tatsächlich durchlebt.
Diagnostisch könnte man sich hinreißen lassen, dieses Phänomen unter dem Münchhausen-Syndrom zu subsummieren. Ich möchte aber differenzieren. Insbesondere beim Vortäuschen bzw. Konfabulieren konkreter Psychotraumata habe ich die Erfahrung gemacht, dass eine äquivalente Grunderkrankung (in diesem Fall eine PTSD) durchaus vorliegt und schlicht weitere und/oder andere traumatisierende Ereignisse vorgetragen werden als die tatsächlich ursächlichen. Das Münchhausen-Syndrom schließt die Existenz der Grunderkrankung, über die fabuliert wird, aber aus.
Ganz selten konnte ich ein solches Konstrukt im langfristigen Kontakt auflösen. So berichtete mir beispielsweise ein Klient (27 Jahre alt, Verwahrlosungstendenzen, Intelligenzminderung, multiple Diagnosen) in jeder einzelnen Sitzung von neuen, persönlichen Katastrophen, die sich seit der letzten Sitzung zugetragen hätten. Die Freundin habe einen Autounfall gehabt und läge mit Hirnblutung auf der Intensivstation. Die Woche darauf habe er erfahren, sie sei schwanger gewesen und das Kind sei verstorben. Als er dann vom Tod der Freundin berichtete (inklusive psychischem „Zusammenbruch“ mit lautstarkem Weinen, Schreien, Hyperventilation und Vom-Stuhl-Sinken), setzte ich kurz darauf einen Sondertermin an und kündigte an, dass ich etwas mit ihm besprechen wolle. Die Konfrontation war erfolgreich: Er räumte ein, dass die Freundin ihn lediglich verlassen habe. Er habe sich so sehr geschämt und immer weitere Geschichten erfunden, aus denen er nicht mehr herausgekommen sei.
In diesem Fall war diese Intervention möglich, da ich bestimmte Dinge nachvollziehen und falsifizieren konnte (so hatte er beispielsweise seit Wochen keinerlei Telefon- oder Briefkontakt zu irgendeinem Krankenhaus oder der Freundin). Außerdem sprang einem die „Pseudologia phantastica“, wie sie vor hundert Jahren genannt wurde, hier förmlich ins Gesicht (Anmerkung: der Begriff ist veraltet und wenig trennscharf, deshalb wird er heutzutage auch nicht mehr benutzt).
In Fällen wie dem von Herrn Buchbinder ist das etwas komplexer. Über das Warum kann man nur spekulieren. Denkbar wäre, dass die Geschichte mit dem erschossenen Jungen stimmt und ihn so aus der Bahn wirft, dass er weitere hinzuerfindet, um das tatsächlich Geschehene zu relativieren. Nach dem Motto „Ich habe so viel Scheiße erlebt, da ist das mit dem Kind nur ein Fliegenschiss.“
Oder aber die Geschichte hat sich anders zugetragen, er hat den Jungen nicht erschossen und dieser hat durch Zünden des Sprengsatzes Zivilisten und Kameraden in den Tod gerissen. Dazu muss man wissen, dass der Tod eines Kameraden für einen Soldaten an sich schon eine massive Traumatisierung darstellt (ungleich massiver als der Tod einer anderen nahestehenden Person). Hat der Soldat einen kausalen Anteil daran, ist dies für ihn so gut wie nicht zu verarbeiten.
Vielleicht ist auch eine völlig andere Geschichte passiert, bei der Herr Buchbinder überhaupt nicht heldenhaft dasteht. Eine Fahnenflucht vielleicht, oder er hat die Nerven verloren und ein Kind erschossen. Ohne die Bombe. All das ist reine Spekulation.
Die Fakten sind:
Was meine weitere Strategie angeht: Ich habe mich für Transparenz entschieden. Einfach, weil ich persönlich in meinem Arbeitskontext damit am besten zurechtkomme. Ich habe in der nächsten Sitzung angesprochen, dass mich die Schilderung der Szene irritiert hat und ich vermute, dass er Geschehenes und anderweitig Erinnertes vermischt. Ich habe es geschafft, ihm wertfrei zu erklären, dass dies eine Traumareaktion sein kann. Die ungewisse Zeit, die er hier verbringt (er saß in Untersuchungshaft), reiche nicht aus, um diese doch recht manifestierte Symptomatik zu bearbeiten. Ich legte ihm eine Traumatherapie ans Herz, wir besprachen die Möglichkeiten, ich bat ihm weitere entlastenden Gespräche an und ließ ihn mit ein paar Adressen externer Therapeuten ziehen.
Er bedankte sich und meldete sich nie wieder. Denn trotz aller Professionalität, die ich an den Tag legte, blieb die Tatsache, dass ich ihm seine Geschichte nicht geglaubt habe. Ein gekränktes Ego und ein Kopf voller unbearbeiteter persönlicher Katastrophen. Welche davon erlebt wurden, welche sein Hirn oder gar sein Ego sich zusammengesponnen haben und welche davon andere, vielleicht weniger heldenhafte, stark schambesetzte Geschichten maskieren, bleibt für mich reine Spekulation. Nur eine einzige Sache ist an diesem Punkt gewiss: Aus einem Krieg kommt keiner gesund zurück. Und was dort wirklich passiert ist, wissen am Ende nur die, die dabei waren.
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