Suchterkrankungen verschonen auch Ärzte nicht – sind aber nach wie vor ein Tabuthema. Warum gerade Mediziner anfällig sind und welche Wege aus der Sucht führen können.
Bei Abhängigkeitserkrankungen handelt es sich um schwere chronischeKrankheiten, die zu beträchtlichen gesundheitlichen Schäden und vorzeitiger Sterblichkeit führen können. Laut ICD11 sind folgende Kriterien entscheidend: starkes Verlangen und Kontrollverlust, Toleranzentwicklung und Entzugssymptome, sowie Vernachlässigung von Verpflichtungen undVergnügen zugunsten des Substanzkonsums und fortgesetzter Konsum trotz schädlicher Folgen. Liegt (noch) keine körperliche Abhängigkeit vor, spricht man von Substanzmissbrauch.
Warum müssen wir dies thematisieren? Mit einer laut Bundesärztekammer geschätzten Lebenszeitprävalenz von ca. 8 % handelt es sich bei Ärzten um die am häufigsten suchterkrankte Berufsgruppe unter Akademikern. Das Vorkommen ist damit insgesamt höher als in der deutschen Normalbevölkerung, so Dr. Maximilian Deest, Chefarzt der Oberberg Fachklinik Weserbergland.
Die mit etwa 70 % am weitesten verbreitete Substanz ist auch in der Ärzteschaft Alkohol. Darüber hinaus spielen Opioide, Benzodiazepine, Propofol, andere Schlaf- und Schmerzmittel oder Kokain eine Rolle. Obwohl es hier vor allem um substanzgebundene Süchte geht, gibt es unter Medizinern natürlich auch nicht-stoffgebundene Abhängigkeiten wie Internet-, Kauf- oder Glücksspielsucht. Tabakabhängigkeit wird in diesem Artikel nicht behandelt.
Die Risiken, die Suchterkrankungen in der Ärzteschaft mit sich bringen, liegen auf der Hand: Neben den gesundheitlichen und sozialen Schäden für die Betroffenen selbst drohen medizinische Fehleinschätzungen und Behandlungsfehler bis hin zur Gefährdung von Patientenleben.
Als mögliche Ursache für mehr Abhängigkeitserkrankungen unter Medizinern ist zum einen die generell hohe Prävalenz psychischer Erkrankungen in der Ärzteschaft zu nennen. Wer eine Prädisposition hat, für den können einerseits belastende Arbeitsbedingungen mit viel Verantwortung, hohem Stresslevel und Schichtdienst begünstigend wirken. Hinzu kann die täglicheKonfrontation mit menschlichem Leid und die teilweise erlebte eigene Hilflosigkeit darüber kommen.
Andere psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder PTBS stellen bei Sucht häufige behandlungsbedürftige Komorbiditäten dar.Darüber hinaus verfügen Ärzte über vereinfachte Zugänglichkeit zu verschreibungspflichtigen Mitteln.
Durchschnittlich vier bis sechs Jahre leben Ärzte mit ihrer Abhängigkeit, bevor sie sich in Therapie begeben. Die medizinische Behandlung umfasst in der Regel eine Entgiftung mit anschließender Entwöhnung, bei der auch die psychotherapeutische und medikamentöse Therapie möglicherKomorbiditäten eine wichtige Rolle spielt. Daneben geht es um Rückfallvermeidung, wobei ein Bruch der Abstinenz nicht zwangsläufig das Therapieende bedeutet, sondern vielmehr als Teil des Krankheitsbildes und Behandlungsprozesses zu sehen ist. Ergänzend können Selbsthilfegruppeneinen wichtigen Baustein darstellen.
Unterstützung bieten auch die jeweiligen Landesärztekammern, welche über strukturierte Betreuungsprogramme verfügen. Hier können sich nicht nur Betroffene selbst melden – teilweise anonym um die Kontaktschwelle gering zu halten – sondern auch deren Angehörige, Kollegen oder Patienten (Kontakt: Bundesärztekammer).
So weit wie möglich wird nach dem Prinzip „Therapie vor Sanktionierung“ verfahren. So unterstützen die Kammern unter anderem bei der Aufnahmeeiner Behandlung in spezialisierten Kliniken oder ambulant und helfen bei der Organisation einer Praxisvertretung.
Auch im weiteren Verlauf kommt es zu regelmäßigen Kontakten. Bei fehlender Kooperation können disziplinarische Maßnahmen nötig werden. Am Beginn der Eskalationsskala stehen unter anderem Verweise und Geldbußen, im Verlauf ist eine Meldung an die approbationserteilende Landesbehörde in Einzelfällen unumgänglich – denn letzten Endes überwiegt die Patientensicherheit.
Grundsätzlich haben Ärzte in der Abhängigkeitsbehandlung eine mit 50 % verglichen hohe Erfolgsrate, so der Suchtbeauftragte der Ärztekammer Berlin Dr. Thomas Reuter. Hintergründe dafür könnten möglicherweise die eigene hohe Motivation und Disziplin sein, aber auch der Druck von außen.
Insgesamt braucht dieses tabuisierte Thema mehr Aufklärung. Denn der Weg in die Abhängigkeit passiert vielfach schleichend und Zeugen bleiben aus eigener Unsicherheit oft untätig. Vor diesem Hintergrund erscheint der Ausbau von Präventionsangeboten sinnvoll, um zu verhindern, dass es zu einem gesundheitsschädlichen Konsum oder einer Sucht kommt – oder um zumindest so früh wie möglich eine Behandlung einzuleiten.
Darüber hinaus wäre ein Wandel unserer Medizinkultur – weg von (finanziellem) Druck und perfektionistischen Leistungsansprüchen an die Behandler und hin zu mehr Offenheit bezüglich eigener Unsicherheiten und Schwächen – nicht nur vor dem Hintergrund manifester psychischerErkrankungen zu begrüßen.
Bildquelle: Naveen Kumar, Unsplash