Fehlende Anerkennung, Erschöpfung, Unmenschlichkeit – das ist der Alltag vieler Klinik-Ärzte. Wir haben euch gefragt, wie schlimm es wirklich ist. Überraschung: Mehr als jeder Zweite will das Handtuch schmeißen.
Die Kritik am Klinikalltag in deutschen Krankenhäusern geht in die nächste Runde. Hier und hier wurden euch schon die Eindrücke von sechs Assistenzärzten geschildert. Der Konsens: Es muss sich etwas ändern. Doch nicht nur der Nachwuchs ist von der Unzufriedenheit am klinischen Alltag betroffen. Auch alte Klinik-Hasen spielen mit dem Gedanken, ihren Kittel an den Nagel zu hängen – oder haben es bereits gemacht. Wir haben nachgefragt, wie die Stimmung bei euch ist. Hier kommen eure Antworten.
Ein paar kurze Angaben zur Umfrage: Insgesamt haben knapp 500 Mitglieder unserer Community die Umfrage beendet. 25,7 % von euch waren Assistenzärzte, 25,1 % Fachärzte im Krankenhaus und 20,1 % Fachärzte in Niederlassung. Weitere 16,8 % waren Allgemeinmediziner und Hausärzte. 3,9 % Studenten haben sich ebenfalls beteiligt. Eine Vielfalt an verschiedenen Tätigkeiten also, die aber eine Meinung teilen: Die Unzufriedenheit an der aktuellen Lage im deutschen Gesundheitswesen. Denn auf die Frage, ob ihr zufrieden seid, antworteten nur 1,2 % mit „Ja“ – die anderen 98,8 % sind unzufrieden. Ganze 54,8 % finden es sogar „schrecklich“.
Niemand ist gezwungen, nach dem Medizinstudium als Arzt tätig zu sein. 71 % von euch haben schon einmal überlegt, die Branche zu wechseln, 14,4 % haben das bereits getan. Aber welche Alternativen gibt es? Nach über sechs Jahren Studium fällt es vielen Ärzten schwer, sich von ihrem ursprünglichen Traumberuf zu lösen. Manchen liegt die Patientenversorgung zu sehr am Herzen. Deshalb gehen viele in die Niederlassung oder wandern aus. Einige wechseln das Fach – beispielsweise in die Arbeitsmedizin oder Labormedizin. Doch weit mehr als die Hälfte – sage und schreibe 62,4 % – möchte die Patientenversorgung komplett aufgeben. Es wird von einem Wechsel in die Lehre oder vorgezogener Rente gesprochen. Manche möchten auch ein komplett neues Berufsfeld entdecken: IT, Wirtschaft, Literatur und sogar Immobilien werden als Alternativen genannt.
Eine Vielzahl an anonymen Stellungnahmen zu dem Thema sind bei uns eingegangen. Fast jeder von euch kritisiert die hohe Arbeitsbelastung:
„In der Patientenversorgung hatte ich damals (>10 J.) im Schnitt 80 bis 100 Wochenstunden. Das war zu viel.“
„Mit Familie nicht vereinbare Arbeitszeiten, permanente Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetzt, regelmäßige über 60h-Woche (als 32h-Teilzeitkraft)!“
„Das Krankenhaus ist eine Folterkammer. Für Angestellte und Patienten.“
Einige eurer Antworten erinnern an Fließbandarbeit. Ein Facharzt aus der Klinik berichtet:
„Die Arbeitsverdichtung und -belastung nimmt immer mehr zu, gleichzeitig wird an allen Ecken, vor allem am Personal, gespart. Die Leistung soll aber bitteschön gesteigert werden und mehr Gewinne sollen erzielt werden. Aber wehe, man macht einen Fehler oder kriecht den Privatpatienten nicht ausreichend in den Allerwertesten … Entscheidungen treffen mittlerweile Anfang 30-jährige BWLer und die haben bekanntlich von Medizin keinen Schimmer. Ich könnte noch ewig so weiterschreiben.“
Auch ein Assistenzarzt äußert sich empört:
„Unmenschlichkeit durch ökonomische Prioritäten, weder Patienten noch Mitarbeiter werden als Mensch betrachtet und die Abläufe entsprechend gestaltet.“
Anderen Kollegen schreiben:
„Die Kollegialität lässt zu wünschen übrig. Die Geldgier hängt mir zum Hals raus.“
„Die Hierarchiestrukturen und Ausbeutung im Gesundheitssystem sind einfach zu groß.“
Besonders oft kritisiert: Die mangelnde Zeit für „richtige ärztliche Tätigkeiten“ aufgrund von Bürokratie und Dokumentationspflicht. Eine Fachärztin, die gerne auswandern möchte, berichtet:
„Bürokratie erstickt jegliche Initiativen und kostet mehr und mehr Zeit. Es ist ein Angst- und umsatzgesteuertes System, in dem Profit und „nicht-schuld-sein“ wichtiger ist als alles andere. Toxische Geschäftsführer, die Ärztinnen wie Idioten behandeln – nein danke.“
Der unzufriedene Ton ist auch bereits bei den jungen Studenten angekommen.
„Die hohe Arbeitsbelastung und ein Arbeitsethos, der den gestressten Zustand und das „immer-ein-bisschen-zu-viel“ als normal einstuft, macht hochmotivierte, begeisterungsfähige und grundsätzlich sehr belastbare Menschen (die haben alle das Medizinstudium geschafft!) kaputt. Warum werden Bus- und Kraftfahrer*innen sanktioniert, wenn sie sich nicht an Ruhezeiten halten, und bei Ärzt*innen Überarbeitung toleriert, teilweise sogar vorausgesetzt? Die Fracht ist doch ungleich wertvoller …“
Und von der Politik fühlt man sich verlassen.
„Die KV macht es schlechter statt besser, Politik ändert nichts.“
Obwohl fast ein Viertel von euch von der Niederlassung als Zufluchtsort träumen, herrscht auch hier Frustration. Die Kollegen äußern sich verzweifelt:
„Ich bin aus der Klinik ausgestiegen, in der Hoffnung in der Niederlassung glücklicher zu sein. Aber das ist die Hölle im Vergleich: keine Verdienstmöglichkeiten, ständige MFA-Wechsel, Schwierigkeit, vernünftiges Personal zu finden und nicht zufriedenzustellende Patienten, die es nicht verstehen, dass Krankenkassen und KV die Medizin, die ich praktizieren und anbieten möchte, gar nicht bezahlen. Ein Vergütungssystem, das älter ist als ich selbst bin – als Maßstab. Ich soll als Arzt BWL, Wirtschaft, IT-Spezialist und nebenbei Medizin können.“
Fragt man Studenten für den Grund der Studienwahl, wird oft vom Wunsch gesprochen, anderen Menschen zu helfen. Die Umfrage aber zeigt: Auch die Patienten werden immer unzufriedener. Ein Kinderarzt schreibt:
„Am meisten ärgern mich sehr fordernde Patienteneltern. Kaum einer ist zufrieden, viele wissen alles besser oder sagen mir direkt, was ich machen soll. [...] Es gibt kein Verständnis der Eltern dafür, dass die Praxis um 17 Uhr schließt. Ein Privatleben darf man als Arzt nicht haben. [...] Wenn man nicht das macht, was sich die Patienteneltern wünschen, bekommt man gleich eine schlechte Bewertung im Internet. Zusammengefasst macht mir meine Arbeit in der Kinderarztpraxis nur selten Spaß.“
Diejenigen, die in ein Feld mit weniger Patientenkontakt wechselten oder der Patientenversorgung den Rücken gekehrt haben, berichten von guten Arbeitsbedingungen, Zeit für Familie und Freunde, positiver Wertschätzung und Freude an der Arbeit. Ist das Aufgeben der Patientenversorgung die einzige Alternative zur derzeitigen Lage? Ein Assistenzarzt scheint da anderer Meinung zu sein:
„Es wird so viel geklagt, gerade in den Reihen der Assistenten – aber meiner Meinung nach ist das überzogen. Wir alle haben den Beruf in dem Wissen gewählt, dass der Arbeitsalltag hart sein kann. Und die Belastung ist in keiner Form vergleichbar mit der von vor noch ca. 20 Jahren. Aus meiner Sicht sollte gelten: weniger rumheulen, mehr arbeiten.“
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