„Use it or lose it“, heißt die Devise bei der Demenzprävention. Aber nicht nur mangelnde kognitive Aktivität im Alter lässt das Demenzrisiko in die Höhe schnellen. Welche zwei neuen Risikofaktoren ihr noch auf dem Schirm haben solltet, erfahrt ihr hier.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Die schlechte Nachricht zuerst: Die Zahl der Demenzerkrankungen nimmt weltweit ungebremst zu. Derzeit sind weltweit rund 60 Millionen Menschen betroffen. Bis 2050 wird mit einem Anstieg auf 140 Millionen Fälle gerechnet. In Deutschland sind derzeit knapp 2 Millionen Menschen betroffen, bis 2050 wird mit einem Anstieg auf knapp 3 Millionen gerechnet (das entspricht der Gesamtbevölkerung Schleswig-Holsteins). Die gute Nachricht: Wir müssen dieser Entwicklung nicht tatenlos zusehen. Fast die Hälfte der künftigen Neuerkrankungen an Demenz könnte durch die Vermeidung von Risikofaktoren verhindert werden. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass die altersspezifische Demenzhäufigkeit in den Industrieländern bereits rückläufig ist. So hat ein 80-Jähriger heute ein geringeres Demenzrisiko als ein 80-Jähriger vor 20 Jahren.
Um diese positive Entwicklung weiter zu unterstützen, müssen Risikofaktoren durch politische oder individuelle Maßnahmen ausgeschaltet werden. Zu diesem Zweck wurde die „Lancet Commission on Dementia“ von der Fachzeitschrift Lancet gemeinsam mit führenden Universitäten und Fachgesellschaften ins Leben gerufen. Ziel der Kommission ist es, die aktuelle Studienlage zusammenzufassen und daraus Handlungsempfehlungen abzuleiten. Der neue Bericht mit den neuesten Erkenntnissen wurde kürzlich veröffentlicht.
Während im letzten Bericht der Kommission von 2020 noch 12 modifizierbare Risikofaktoren beschrieben wurden, sind im aktuellen Bericht zwei neue hinzugekommen. Zu den bekannten Faktoren gehören die üblichen kardiovaskulären Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Diabetes und Rauchen. Aber auch mangelnde Bildung in Kindheit und Jugend sowie mangelnde kognitive Aktivität im mittleren und höheren Lebensalter wirken sich negativ aus. Für das Gehirn gilt: „use it or lose it“. Ein weiterer wichtiger Risikofaktor, insbesondere im höheren Lebensalter, ist die weit verbreitete Schwerhörigkeit. Eine adäquate Versorgung mit Hörgeräten kann dazu beitragen, das Demenzrisiko zu senken.
Aber nicht nur Menschen, die schlecht hören, haben ein erhöhtes Risiko für kognitiven Abbau. Als neuer Risikofaktor wurde jetzt auch eine unbehandelte Sehschwäche identifiziert. Davon sind 12,6 % der über 50-Jährigen betroffen. Seit dem letzten Bericht der Kommission wurden neue Studien zum Zusammenhang zwischen Sehbehinderung und Demenz veröffentlicht. In einer Metaanalyse wurden mehr als 6 Millionen Menschen untersucht. Dabei führte eine unbehandelte Sehstörung zu einem um 47 % erhöhten Risiko.
In einer weiteren Studie wurde der Zusammenhang für verschiedene Augenerkrankungen getrennt untersucht. Dabei führten sowohl Katarakt als auch diabetische Retinopathie zu einem erhöhten Demenzrisiko, während bei Glaukom und altersbedingter Makuladegeneration kein Zusammenhang nachweisbar war. Mögliche Mechanismen, die diesem Zusammenhang zugrunde liegen, sind Grunderkrankungen wie Diabetes, die sowohl zu einer Sehbeeinträchtigung als auch zu einer dementiellen Entwicklung führen können. Andererseits könnte auch die Sehbeeinträchtigung selbst ursächlich sein. Dafür spricht, dass das Demenzrisiko mit der Schwere der Sehbeeinträchtigung steigt. Daten, die eindeutig belegen, dass eine Behandlung der Sehstörung das Demenzrisiko wieder senken kann, stehen allerdings noch aus. Dennoch bewertet die Lancet-Kommission eine unbehandelte Sehschwäche als einen wichtigen potenziell modifizierbaren Risikofaktor mit großem Potenzial für die Prävention von Demenzerkrankungen.
Der zweite neu in die Liste aufgenommene Risikofaktor ist die Erhöhung des LDL-Cholesterins. Während die Datenlage beim letzten Bericht 2020 noch nicht eindeutig war, wurden auch hier in der Zwischenzeit neue Studien durchgeführt. Diese untersuchten Erwachsene mittleren Alters und fanden heraus, dass jede Erhöhung des LDL um 1 mmol/l das Demenzrisiko um 8 % erhöht – 1 mmol/l entspricht 39 mg/dl (in Deutschland wird Cholesterin meist in mg/dl angegeben, im englischsprachigen Raum dagegen in mmol/l). Besonders interessant: Eine Behandlung mit cholesterinsenkenden Medikamenten (meist Statine) führte im Vergleich zu einer unbehandelten LDL-Erhöhung zu einem geringeren Risiko, später an einer Demenz zu erkranken. Dabei scheint die Statintherapie vor allem bei Personen < 65 Jahren von Vorteil zu sein. Im höheren Alter konnte bisher kein eindeutiger Effekt einer medikamentösen Cholesterinsenkung auf das Demenzrisiko nachgewiesen werden.
Zusammenfassung der beeinflussbaren Risikofaktoren. Anordnung der einzelnen Risikofaktoren nach dem Lebensalter, in dem sie am relevantesten sind (Demenzprävention ist eine lebenslange Aufgabe). Die Prozentzahlen geben an, wie viele Demenzfälle bei vollständigem Ausschalten des Risikofaktors verhindert werden können. Credit: Lancet Commission on Dementia.
Es bleibt also noch viel zu tun: Würden alle 14 Risikofaktoren vollständig eliminiert, ließe sich die Gesamtzahl der Demenzerkrankungen nahezu halbieren. Um möglichst große Fortschritte bei der Demenzprävention zu erzielen, muss auf zwei Ebenen angesetzt werden: Zum einen können politische Entscheidungsträger Maßnahmen ergreifen, die die gesamte Bevölkerung betreffen. Zum anderen kann aber auch jeder Einzelne sein individuelles Risiko senken, indem er seine Risikofaktoren im Auge behält und so weit wie möglich ausschaltet.
Obwohl der Schwerpunkt der Lancet-Kommission auf der Prävention von Demenzerkrankungen liegt, werden auch die verfügbaren Therapien bewertet. Cholinesterasehemmer und Memantine werden für Demenzkranke uneingeschränkt empfohlen, da sie einen moderaten Effekt auf die kognitiven Symptome haben und gleichzeitig sehr gut verträglich sind. Bei den neuen Amyloid-Antikörpern sind die Empfehlungen dagegen zurückhaltender. Auch hier sind die Effekte bei der frühen Alzheimer-Demenz moderat. Dem stehen aber im Gegensatz zu den altbekannten Medikamenten erhebliche Risiken gegenüber. Dies bestätigt die kürzlich bekannt gewordene Entscheidung der europäischen Zulassungsbehörde EMA, den Amyloid-Antikörper Lecanemab nicht zur Vermarktung zuzulassen (DocCheck berichtete).
Kurze Zusammenfassung für Eilige:
Demenzprävention: Die Zahl der Demenzerkrankungen nimmt weltweit zu, aber fast die Hälfte der Fälle könnte durch Vermeidung von Risikofaktoren verhindert werden. Dazu zählen etwa Bluthochdruck, Diabetes, mangelnde Bildung und Schwerhörigkeit.
Neue Risikofaktoren: Unbehandelte Sehschwäche erhöht das Demenzrisiko um 47 %, und eine LDL-Cholesterinerhöhung um 1 mmol/l steigert das Risiko um 8 %. Beide Faktoren sind nun in die Liste der modifizierbaren Risikofaktoren aufgenommen worden.
Therapieansätze: Cholinesterasehemmer und Memantine werden weiterhin zur Behandlung von Demenz empfohlen, während bei neuen Amyloid-Antikörpern aufgrund von Risiken Zurückhaltung geboten ist. Die Prävention durch Risikofaktoren bleibt entscheidend.
Quelle:
Livingston G et al. Dementia prevention, intervention, and care: 2024 report of the Lancet standing Commission. Lancet, 2024. doi: 10.1016/S0140-6736(24)01296-0.
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