Neue Alzheimer-Medikamente wie Lecanemab haben schon für einige Schlagzeilen gesorgt. Doch jetzt zeigt sich: Sie eignen sich wohl für deutlich weniger Patienten als gedacht.
Mit dem Aufkommen der Anti-Amyloid-Antikörper in der Alzheimer-Therapie wurden Sorgen laut, die damit verbundenen Kosten könnten zu einer Überlastung des Gesundheitssystems führen. Eine kürzlich von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) veröffentlichte Pressemitteilung (DocCheck berichtete) erwähnte eine Studie, die eine Zahl von 5,4 Millionen Patienten ausmachte, die für eine Therapie mit Lecanemab in Frage kommen. Lecanemab ist einer der ersten Vertreter dieser neuen Medikamenten-Klasse und steht kurz vor der Zulassung in Europa.
Die damit verbundenen Therapiekosten wurden auf 133 Milliarden Euro jährlich geschätzt. Sollte nur annähernd so viel Geld benötigt werden, wäre eine Finanzierung dieser neuen Therapien tatsächlich nahezu unmöglich. Eine neue Studie zum Thema, die kürzlich in der Fachzeitschrift Neurology veröffentlicht wurde, liefert jetzt allerdings Hinweise, dass für die neuen Antikörper-Therapien deutlich weniger Patienten in Frage kommen könnten, als bisher gedacht.
Die Autoren untersuchten eine populations-basierte Kohorte mit milden kognitiven Einschränkungen (mild cognitive impairment, MCI) oder früher Alzheimer-Demenz. „Populations-basiert“ bedeutet, dass eine repräsentative Stichprobe einer gesamten Population, also beispielsweise aller Einwohner eines Landkreises, untersucht wird. Es handelt sich also um ein Patientenkollektiv, welches eher der klinischen Realität entspricht, als die stark selektionierten Kollektive in den Phase-III-Studien der Amyloid-Antikörper. Die Daten der Patienten dieser „Mayo Clinic Study of Aging“-Kohorte wurden daraufhin untersucht, in wie weit sie den Ein- und Ausschlusskriterien der Lecanemab-Zulassungsstudie entsprochen hätten. Daraus ergibt sich dann, ob sie für eine Therapie mit dem neuen Antikörper geeignet wären.
In der Studie wurde dies auch für den in Zukunft wohl keine große Rolle mehr spielenden Antikörper Aducanumab untersucht. Auch wenn Aducanumab von der EMA keine Zulassung erhielt und die Vermarktung auch in den USA mittlerweile gestoppt wurde, ist es dennoch von Interesse, wie viele Patienten für eine Therapie in Frage gekommen wären, da sich die Kriterien der verschiedenen Amyloid-Antikörper-Studien ähneln und so auch Rückschlüsse auf die Therapie mit anderen Antikörpern gezogen werden können.
Für die Studie wurden 237 Patienten der genannten Kohorte mit MCI oder beginnender Demenz untersucht, bei denen mittels zerebraler Bildgebung eine erhöhte Menge von Amyloid-Plaques nachgewiesen wurde. Es wurden also von Beginn an nur Patienten untersucht, bei denen man davon ausgeht, dass sie an einem frühen Stadium der Alzheimer-Erkrankung leiden. Für die Therapie solcher Patienten wurden die Amyloid-Antikörper entwickelt und untersucht. Man könnte also erwarten, dass ein Großteil dieser Patienten mit den neuen Medikamenten behandelt werden kann.
Das Gegenteil war der Fall: Nachdem alle Ein- und Ausschlusskriterien der entsprechenden Phase-III-Studie angewandt wurden, blieben von den analysierten 237 am Ende nur 19 Patienten übrig, die für eine Therapie mit Lecanemab infrage gekommen wären. Dies entspricht gerade einmal 8 %. Bei Aducanumab blieben von den 237 Patienten sogar nur 12 Patienten bzw. 5 % übrig. Nach Anwendung der Einschluss- und Ausschlusskriterien auf eine Kohorte von Alzheimer-Patienten in einem frühen Krankheitsstadium bleibt also nur ein einstelliger Prozentsatz übrig, der für eine Antikörper-Therapie in Frage kommt.
Die Gründe für die geringe Zahl an Patienten, die in die Studien eingeschlossen worden wären, waren vielfältig. So mussten neben den Symptomen eines MCI oder einer beginnenden Demenz bestimmte Scores in weiteren Gedächtnis-Tests erreicht werden, um in die Studie eingeschlossen zu werden. In der Lecanemab-Studie musste der BMI zwischen 17 und 35 liegen, in der Aducanumab-Studie war das maximale Alter 85 Jahre. Nach Anwendung dieser Einschlusskriterien blieb nur ungefähr die Hälfte der ursprünglichen Patienten übrig. Wurden dann noch die Vorerkrankungen betrachtet, reduzierte sich die Zahl der geeigneten Patienten weiter. Ein stattgehabter Schlaganfall, eine andere schwere kardiovaskuläre Erkrankung und eine Krebserkrankung waren Ausschlusskriterien. Außerdem musste ein kraniales MRT vor der Behandlung durchgeführt werden. Wenn sich in der Bildgebung Blutungsresiduen oder postischämische Defekte zeigten, wurden die Patienten ebenfalls ausgeschlossen. Wurden auch diese Ausschlusskriterien auf die Patienten der untersuchten Kohorte angewendet, reduzierte sich der Anteil an geeigneten Patienten auf den genannten einstelligen Prozentsatz.
Eine der Studien-Autorinnen, Maria Vassilaki von der Mayo Clinic in Rochester, Minnesota, wies darauf hin, dass die neuen Alzheimer-Medikamente nur bei Menschen mit der frühesten Form der Alzheimer-Erkrankung untersucht wurden. „Die Einschluss- und Ausschlusskriterien der klinischen Studien, die zur beschleunigten Zulassung durch die FDA führten, bilden die Grundlage, auf der Menschen dazu beraten werden sollten, ob sie mit monoklonalen Antikörpern gegen zerebrales Amyloid-Beta behandelt werden sollten. Unsere Untersuchung schätzt, dass nur ein kleiner Prozentsatz der älteren Menschen mit kognitiven Einschränkungen im Rahmen einer Alzheimer-Erkrankung für eine Behandlung mit den monoklonalen Antikörpern gegen Amyloid geeignet ist“, so die Autorin im Gespräch mit der American Association of Neurology.
Handelt es sich bei den Ergebnissen um gute Nachrichten, da sie darauf hinweisen, dass die finanziellen Belastungen durch die neuen Medikamente doch etwas geringer ausfallen könnten, als erwartet? Oder sind es schlechte Nachrichten, da auch in Zukunft einem Großteil der Alzheimer-Patienten mit Medikamenten nicht gut geholfen werden kann? Das hängt wohl davon ab, mit wessen Sichtweise man auf die Fragestellung blickt. In jedem Fall können die Ergebnisse als Ansporn betrachtet werden, dass die Forschung zu Alzheimer-Medikamenten durch die Amyloid-Antikörper zwar einen großen Schritt weitergekommen ist, aber immer noch ein großes Patientenkollektiv bleibt, für welches wirksame medikamentöse Therapien erst noch entwickelt werden müssen.
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