KOMMENTAR | „Wer heute nicht verstanden hat, worum es geht, der ist unwillig oder unfähig“ – mit viel Frust und Verzweiflung kamen gestern 800 Ärzte und Psychotherapeuten in Berlin zusammen. Eins ist klar: Es braucht eine andere Gesundheitspolitik.
Als „erstes unmissverständliches Warnzeichen“ soll das gestrige Treffen der ambulant arbeitenden Ärzte und Psychotherapeuten verstanden werden. Der Tenor der Vertreter aus allen KVen, von Vorständen verschiedener Verbände und Meinungsumfragen unter Ärzten und Patienten ist klar: Das Ende ist nah. Ob „5 vor Zwölf“, „mit einem Bein im Grab“ oder „am Abgrund stehend“ – die gewählten sprachlichen Bilder zeigten die Schlagrichtung.
Doch woher kommt die Enttäuschung, die an vielen Stellen schon eher Zorn gewichen zu sein scheint? Es ist gar nicht so einfach, einen Startpunkt des politischen Versagens oder ärztlichen Widerstandswillens aufzuzeigen – sind es doch Strukturen, die offenbar in die falsche Richtung gewachsen sind, immer wiederkehrende Sticheleien, unerfüllte Versprechen und eine sich zuspitzende finanzielle Schieflage, die nun das Fass zum Überlaufen bringen.
Fakt ist aber der Status quo und der heißt: 50 bis 60 Stunden-Wochen, fehlende Investitions- und Kostenausgleiche, leistungs- und patientenfeindliche Budgetierungen, überbordende Bürokratie, fehlender Nachwuchs, ausbleibende Nachbesetzungen, dysfunktionale Digitalisierung, Ausbleiben einer allgemeinen Ambulantisierung von Leistungen und Gängelung im Austausch.
Gleichzeitig vor dem Hintergrund, was ambulante Ärzte und Psychotherapeuten leisten: Sie arbeiten 90 % aller Patientenkontakte ab (1 Milliarde in einem Jahr), erledigen 578 Millionen Behandlungsfälle, führen 5,9 Millionen ambulante Operationen und rund 130.000 Telefon- und Onlineberatungen sowie Hausbesuche durch. Doch diese Leistungen, die zu einem der flexibelsten und sichersten Gesundheitssystem führen, „sind keine Flatrate und kein All-You-Can-Eat-Angebot. Die müsse alle bezahlt werden und dabei gilt es, faire Bedingungen für alle zu etablieren. Wir brauchen eine nachhaltige Finanzierung und keinen Etikettenschwindel mit einer Anpassung unter der Inflationsrate“, benannte KBV-Chef Dr. Andreas Gassen eine erste Forderung der Verbändeallianz.
Wenig hilfreich ist es angesichts des offensichtlichen Nachholbedarfs, dass auf dem Weg zu notwendigen Einigungen unüberlegte bis provokante Äußerungen eine Lagerteilung nur vorantreiben. So sehen die Ärzte den GKV-Vorwurf, dass sie als Spitzenverdiener mehr in die eigene Tasche wirtschaften, ebenso als ungeheuerlich an (wir berichteten) wie die Aussage der brandenburgischen Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne), dass die ärztliche Selbstverwaltung „auch für unsere Demokratie ein Problem“ sei.
Dass laut Forsa-Umfrage nur noch rund 27 % aller Befragten der aktuellen Politik vertrauen und das Lösen von Problemen zutrauen, gleichzeitig aber 90 % Vertrauen in ihre Ärzte und Psychotherapeuten haben, schien für Gassen Argument dafür, dass ein funktionierendes Gesundheitswesen wesentlich mehr zum sozialen Frieden beitrage als die gegenwärtige Arbeit in Berlin. Und der KBV-Chef ging noch weiter: „Die Abschaffung der Neupatienten-Regelung, die Verweigerung einer adäquaten Finanzierung, nicht funktionierende digitale Tools – das hat mit den ‚bahnbrechenden‘ Reformen, von denen Herr Lauterbach redet, nichts zu tun, ebenso wenig mit der Realität in den Praxen.“ Die Lauterbachsche Maxime von „keinen Leistungskürzungen“ sei gescheitert – nicht nur mit Blick auf die Finanzen. Denn die Ärzteschaft zahle außerdem mit mentaler Gesundheit und Motivation und damit sei letztlich der ausbleibende Nachwuchs ebenso zu erklären, wie nicht nachzubesetzende Kassensitze.
Dabei sah es zu Beginn der Legislaturperiode noch anders aus. Lauterbach hatte die notwendigen Umstrukturierungen erkannt, ließ die Nachjustierungen in den Koalitionsvertrag schreiben. 25 % aller stationären Behandlungen sollten ambulantisiert werden, eine sektorengleiche Vergütung die Ambulantisierung vorantreiben. Doch nach den Willensbekundungen geriet Sand ins Getriebe. Nach Verabschieden des Krankenhauspflegeentlastungsgesetzes scheiterte ebenjener Versuch, die spezielle sektorengleich Vergütung umzusetzen, in den Verhandlungen von GKV-Spitzenverband, DKG und KBV. Auch waren sich KBV, SPiFA und BDC einig, dass der Prozess einer entsprechenden Rechtsverordnung viel zu langsam voranginge – und vor allem viel zu wenige Eingriffe ambulantisiert werden sollten.
Derweil etabliert Berlin gänzlich neue Strukturen, um vermeintlich Entlastung zu schaffen. So sollen Gesundheitskioske bei grundlegenden Anliegen Abhilfe schaffen und Community Health Nurses die MFAs entlasten. Warum man etwas Neues schafft, aus Mitteln, die ebenso das funktionierende System stärken könnten, mit Personen, die ohnehin bereits nicht zu finden sind, stößt im Saal auf Unverständnis. „Das sind alles ärztliche Surrogate. Ein rein kläglicher Versuch, der auch nichts besser machen wird – weder für uns noch für die Bürgerinnen und Bürger“, schätzte Dr. Stephan Hofmeister, Vize-KBV-Chef, ein.
Es bleibt der Zwischenstand: Umso weniger sich in der Politik an ernsthaften Lösungsvorschlägen tut, umso schneller dreht sich die Abwärtsspirale in den Praxen vor Ort. Nicht müde wurde man an diesem Freitagvormittag, die konkreten Auswirkungen aufzuzeigen.
Doch es ist keine blinde Wut, die da herrscht. Die Ärzte sind vorbereitet, ihre berufsständische Apokalypse in anschaulichen Bildern zu präsentieren, um aus dem leisen Praxissterben ein lautes zu machen.
„An allen Ecken und Enden bröckelt es – der Empfangstresen unbesetzt, die Zeit im Sprechzimmer knapp, jede Investition, sei es in Praxis, Mitarbeitende oder Versorgung, ein mühsames Hin- und Hergerechne. Die Lage wird sich weiter zuspitzen, wenn der ärztliche Nachwuchs abgeschreckt wird und die älteren Kolleginnen und Kollegen doch lieber in die Rente gehen als ihre Praxen für ihre Patientinnen und Patienten offen zu halten“, beschrieb Dr. Markus Beier, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbands, den Alltag für seine Verbandsmitglieder.
Und so kommen auch die Forderungen mit markigen Worten, jedoch prägnant in ihrer Zielsetzung: Die jahrzehntelange Unterfinanzierung ist den Anwesenden das wichtigste Anliegen. Man würde bereits „ausbluten, verhungern, siechen“ und verwalte den Untergang, so gut es gehe. Die sogenannte Budgetierung repräsentiert keineswegs die tatsächlichen Leistungen und sei veraltet. In ihrem Forderungspapier bringen die Verbände hier auch die Kassen ins Spiel: „Die Krankenkassen setzen mit ihrer Sparpolitik die Zukunft der ambulanten Versorgung aufs Spiel. Inflation, steigende Energie-, Material- und Personalkosten zehren die Praxen aus. So stiegen sowohl Grundlohnsumme als auch Verbraucherpreise von 2019 bis 2022 um 11,9 Prozent, der Orientierungswert für die ambulante Versorgung dagegen nur um 6 Prozent. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum erhöhte sich der Veränderungswert für Krankenhäuser um 12,8 Prozent.“
„Neben einem angemessenen Kosten- und Inflationsausgleich braucht es eine umfassende Umstrukturierung unseres Honorarsystems in der Regelversorgung, durch die wir endlich die Zeit für unsere Patientinnen und Patienten gewinnen, die ihnen zusteht: Beginnend bei der längst überfälligen finanziellen Stärkung der unverzichtbaren Arbeit unserer Praxisteams bis hin zur strukturierten Reduktion vermeidbarer Arzttermine, etwa durch eine Abkehr von der Quartalslogik im Vergütungssystem, faire Strukturpauschalen und die konsequente Förderung der hausärztlichen Patientenkoordination“, ergänzte Beier.
„Wir brauchen keine digitalen Allmachtsfantasien. Wir brauchen eine Digitalisierung, die die Praxen unterstützt und nicht behindert. Erst dann kommt die digitale Wende – nicht aber mit diesen dysfunktionalen Anwendungen. Zudem bedarf es des Schutzes von Patientendaten gegenüber Interessen Dritter. Die uns anvertrauten Daten sind keine Ware, die der Meistbietende erhält. Auch brauchen wir eine Aus- und Weiterbildung, die den medizinischen Fortschritt sichtbar macht und bestmögliche Versorgung garantiert“, sagte Gassen. Zu großem Unmut führte zudem, dass die Digitalisierung immer wieder an Strafen oder Bußgelder gekoppelt sei, die weder die Sache an sich, noch die tatsächliche Umsetzung beschleunigen.
Laut wurde es im Saal bei der Forderung nach einem Ende der Bürokratisierung. Will heißen: „Medizinisch unsinnige Wirtschaftlichkeitsprüfungen müssen abgeschafft werden. Und, Herr Lauterbach, beenden Sie die Arzneimittelregresse!“, appellierte Gassen an den Minister. Es könne nicht sein, dass man im Jahr volle 60 Arbeitstage mit Verwaltung beschäftigt sei. „Ein ganzes Quartal mit nichtärztlicher Arbeit, dafür bin ich nicht Arzt geworden. Der Gipfel wurde 2021 erreicht, als es 69 Ziffern bedurfte, um in Corona-Zeiten zu impfen. Gleiches gilt, wenn ich heute für eine alte Person eine Reha anordnen möchte – dazu einen Antrag bei der Krankenversicherung stelle, um den richtigen Antrag zu bekommen, den ich dann stelle, nur damit dieser abgelehnt wird,“ veranschaulichte Eckart Lummert von der KV Niedersachsen.
Zuletzt haben die Ärzte und Psychotherapeuten daneben auch die Bedürfnisse der medizinischen Fachangestellten ebenso im Blick wie sie den Nachwuchs vertreten und Argumente für Aus- und Weiterbildung an den Minister adressieren. Zeit, all das gestern eingereichte Forderungspapier und einen „fairen, ehrlichen Umgang mit den Bedenken und Problemen“ zu vermitteln, hat der Minister derweil bis zur nächsten Hauptversammlung am 13. September.
In der Ärzteschaft ist man derweil ebenso skeptisch bis fatalistisch wie entschlossen, die Sachen weiterzuführen, wenn die Erfolge ausbleiben. „Wer heute nicht verstanden hat, worum es geht, der ist unwillig oder unfähig“, so Hofmeister. „Es muss vermutlich erst hörbar, spürbar, fühlbar werden, bis sich Strukturen ändern und die Politik es versteht. Immerhin sind deren Wählerinnen und Wähler nicht nur Bürger des Landes, sondern auch unsere Patientinnen und Patienten.“
„Wenn die Kassen das, was wir als Minimum fordern, nicht umsetzen können, dann fordern wir die Politik auf, Steuergelder in die Hand zu nehmen“, unterstreicht Gassen eine aus Resignation wie Notwendigkeit geborene, unverrückbare Haltung.
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