Als Arzt wird man nicht krank. Das habe ich mir immer gesagt – bis ich selbst nicht mehr arbeiten konnte. Plötzlich saß ich auf der anderen Seite und war Patient. Seither sehe ich meine psychiatrischen Kollegen mit anderen Augen.
Nach Veröffentlichung meines Artikels über Erschöpfung, Burnout und Depression gab es zahlreiche Zuschriften, Antworten und Hilfsangebote von Kollegen und Therapeuten hier auf DocCheck. Dafür möchte ich mich zunächst bedanken! Ich scheine mit meiner Darstellung vielen ärztlichen und therapeutischen Kollegen aus der Seele gesprochen zu haben. Daher möchte ich heute aus einer neuen Perspektive schreiben.
Ich bin seit nunmehr vier Monaten in einer klinischen Behandlung. Der Beginn war für mich aus vielerlei Sicht nicht ganz einfach. Zum einen lagen die Antriebslosigkeit und ein Gefühl des Versagens auf meiner Seele. Ich fühlte mich wie gescheitert an meinen Ansprüchen, weil ich nicht mehr in diesem System funktionieren konnte. Die Nachrichten meiner Kollegen, was mit mir denn sei und ob man mir helfen könne, verstärkten das Gedankenkarussell nur noch. Ich wollte gerne sagen, dass ich am Ende war. Ich wusste aber auch, dass ich nicht die Wahrheit sagen konnte – denn ein Arzt wird nicht krank, erst recht nicht psychisch.
Man sagte mir an meinem ersten Tag in der Klinik, dass „hier in der Klinik jeder seine Themen habe“ und dass ich das schnell im Umgang mit den anderen Patienten merken würde. Tja, nun war ich also Patient. Ich saß in meiner ersten Gruppentherapie mit einer Mischung aus Verzweiflung über meinen Zustand und einem Rest ärztlicher Überheblichkeit. Es wurde mir sehr schnell klar, dass sich die Themen, die jeder mitbrachte, wiederholten: Viele waren hier übereifrige Perfektionisten, die sich in ein System eingefügt und 150 % Leistung erbracht hatten. Eine andere stabilitätsgebende Säule außer dem Beruf gab es nicht. Hinzu kamen eigene Themen wie Konflikte aus der Kindheit, Familienverhältnisse mit fehlendem Halt oder schwierige Partnerschaften. Viele einzelne kleine Tränen, oft jahrelang aufgestaut, die dann durch einen scheinbar banalen Auslöser einen psychischen Tsunami verursacht hatten.
Dies alles machte die Tage sehr anstrengend. Oft fühlte ich mich nach einem Tag in der Tagesklinik erschöpfter als nach einem 24-Stunden-Dienst. Während ich mir am Anfang gewünscht hätte, dass ich hier auf ebenfalls betroffene Kollegen treffen würde, bin ich heute sehr froh, dass das Arztsein keine größere Bedeutung mehr hatte. Ich wurde durch die Mitpatienten scheinbar nicht anders behandelt. Nur hier und da kam mal in den Gesprächen mit den psychiatrischen Kollegen durch, dass ich „das ein oder andere somatische doch besser beurteilen könne“. Ich habe mich am Anfang schwergetan, das perfektionistische Selbstbild der funktionierenden Ärztin aufzugeben. Gleichzeitig hatte ich aber auch keine Kraft mehr, dieses Bild aufrechtzuerhalten. Es tat gut, einfach nur ich selbst zu sein.
Die Tage zogen sich hin. Erst wurden es Wochen, dann Monate. Ich arbeitete hart an mir, hinterfragte mich und stellte alles bisher Dagewesene in Frage. Nicht nur die Therapeuten und Psychiater waren dabei eine Unterstützung, sondern oftmals auch meine Mitpatienten.
Es tat gut, sich nicht mehr erklären zu müssen. Keine Erklärung darüber, wenn man betrübt war oder Angst spürte. Oder wenn man weinte. Ich glaube, ich habe in dieser Zeit ein bisher nicht bekanntes, tiefes Verständnis für mich aber auch für andere erfahren. Dafür bin ich dankbar.
Ich hatte mit Aufnahme in die Klinik ein Antidepressivum erhalten, das mir innerhalb weniger Tage wieder Antrieb verschaffte. War ich noch zum Jahreswechsel antriebslos und erschöpft, spürte ich jetzt, dass ich wacher und teils aufgedrehter war. Ich nahm das alles wahr und konnte erkennen, dass mein Studiumswissen über psychiatrische Erkrankungen, Therapien und Medikamente nun Eins zu Eins, live und in Farbe in meinem Kopf ablief. Als ich meiner Psychiaterin davon berichtete, schmunzelte sie und meinte, dass sie sich bereits als sie mich durch die Tür treten sah, im Kopf notiert habe, dass es keiner weiteren Dosissteigerung bedürfe. Dabei grinsten wir beide.
Ich habe es als große Entlastung empfunden, dass ich vom ersten Moment an mit meiner Psychiaterin auf Augenhöhe mein Denken und Fühlen reflektieren konnte. Die Kontrolle abzugeben und sein Innerstes auszupacken, ist mir nicht leichtgefallen. Ich habe mich mehr als einmal dabei erwischt, wie ich die Fragen meiner Psychiaterin hinsichtlich ihrer möglichen Gedanken- und Interpretationsstrukturen des zuvor von mir Gesagten analysierte und hinterfragte. Während am Anfang mein Beruf in meinem Fokus stand, bearbeiteten wir Schritt für Schritt die Auslöser für meinen Zustand und so wie man ein Puzzle zusammensetzt, erkannte ich mehr und mehr, warum es so weit gekommen war. Aber noch viel bedeutsamer: Ich erkannte auch, was mir gefehlt hatte und was ich tun kann, damit es nicht mehr dazu kommt.
Ich gebe zu, ich war arrogant. Auf der Seite der somatisch arbeitenden Ärzte gibt es gegenüber den psychiatrischen Kollegen die ein oder anderen Vorbehalte. In meinem Fall kann ich nur demütig sagen: Meine Psychiaterin war und ist mein Lotse in diesem seltsamen Gewässer, das sich Depression nennt und das ich hoffe, nun endlich verlassen zu haben.
Der Autor des Textes ist der Redaktion bekannt, möchte aber anonym bleiben.
Bildquelle: Annie Spratt, unsplash